Alfonsina Storni: Die Frau und dies Meer

Auf hoher See gibt es viel zu sehen. Alfonsina Storni schaut dem Jungen auf dem Erstklassdeck zu, der mit seiner Kino-Kodak die Wellen fotografiert. Ein neuer Sport für Leute mit Geld, aber Storni weiß, dass es auch ohne Kamera geht. Sie hat die Textform „Kodak“ erfunden, ein Flash in Worten. Ein paar davon sind kurz vor ihrer Abreise aus Buenos Aires in der Zeitung La Nación erschienen: „Dein erster Blick durchdrang schlagartig die zehntausend Tage meines Lebens.“ Als Storni am 10. Januar 1930 in Barcelona an Land geht, ist sie fast ein Star. Man kennt ihren Namen aus großen Kulturzeitschriften, sie gibt Interviews, auch mit ihrer Reisegefährtin und Arbeitskollegin am Konservatorium, und staunt über den Pluralismus in Spanien: Wie schön kann die Welt sein, wenn alle ihren Platz haben.

Storni fühlte sich während ihres Aufenthalts in Spanien als Künstlerin gesehen, als nahbare Frau, als unabhängiger Mensch geschätzt. Anders in Argentinien. Selbst in Buenos Aires wirkte eine wie sie deplatziert. Als mit dem Militärputsch von 1930 das „infame Jahrzehnt“ anbrach, sich das Land verfinsterte, stieß der Weckruf der Feministinnen, Anarchistinnen und Sozialistinnen, denen Storni zugewandt war, zusehends auf taube Ohren. Ultramoderne Frauen wie sie erlitten herbe Rückschläge.

Was aber verschlug die Tessinerin überhaupt nach Südamerika? 1870 war ihr Vater mit seinen Brüdern nach Argentinien emigriert. Bei einem längeren Heimaturlaub im Tessin 1892 kam Alfonsina zur Welt. Nach der Rückkehr ging es bergab. Der Vater starb, die Primarschülerin half der Mutter, die Familie über Wasser zu halten. Mit 15 war sie Nachwuchsschauspielerin und reiste mit einem Wandertheater durch die Provinz. Danach wollte sie unbedingt selbst Komödien schreiben. Mit 19, im sechsten Monat schwanger, zog sie in die Hauptstadt und wagte sich als unverheiratete, alleinerziehende und berufstätige Mutter in die Öffentlichkeit – ein Dreifachskandal. Doch sie machte ihren Weg als Lyrikerin, Journalistin, Dozentin und Autorin für Kinder- und Erwachsenentheater. Sie baute Charlie Chaplin und Micky Maus in die Kinderstücke ein, bearbeitete Euripides und Shakespeare für ein modernes Publikum.

Ihr erstes eigenes Stück Zwei Frauen brachte ihr zwar kein Glück, doch wertvolle Erfahrungen. Im grandiosen Bericht Hinter den Kulissen enthüllt Storni den Filz, den sie anlässlich der Uraufführung 1927 im Theaterbetrieb und der Presse erlebt hat. Damit setzt sie sich einmal mehr in die Nesseln, aber sie hält dagegen: „Im Dokumentieren sehe ich eine zivilisatorische Aufgabe, vielleicht die einzige, die rechtfertigt, dass Menschen ihren Fuß auf den Planeten Erde setzen.“

Ich selbst bin auf Umwegen auf Alfonsina Storni gestoßen. Durch das Lied Alfonsina y el mar von Mercedes Sosa, erschienen 1969, in dem eine Selbstmörderin besungen wird. Ich wusste damals nicht, dass sie eine historische Person war, sogar die berühmteste, nicht in einer Landessprache schreibende Schweizer Autorin. 2009 habe ich beschlossen, die erste deutsche Werkausgabe, die Kolumnen, Erzählungen, Aphorismen, Gedichte, Briefe und Interviews, die autobiografischen Texte und die Theaterstücke von Alfonsina Storni zu übersetzen und herauszubringen sowie ihre Biografie zu schreiben. Sie erscheint im September.

Über ihre sehr erfolgreiche frühe Lyrik schrieb Alfonsina Storni vor dem Tod: „Ich selbst lehne meine Anfänge heute ab, denn sie sind mit romantischem Honig überfrachtet, aber ich muss gleichzeitig anerkennen, dass ich in jenen Gedichten die kritische Position einer Frau des 20. Jahrhunderts einnahm. In dieser Form konnte die Kritik an den immer noch süßen, aber schon erkalteten Zangen des Patriarchats weltweite Verbreitung erlangen.“ Am 25. Oktober 1938 ging Alfonsina Storni schwer krebskrank in Mar del Plata ins Meer.

Alfonsina Storni: Cimbelina. Theaterstücke. Übersetzt und herausgegeben von Hildegard Keller; Edition Maulhelden, Zürich 2021; 276 S., 29,80 Fr., 28,– €

Auf hoher See gibt es viel zu sehen. Alfonsina Storni schaut dem Jungen auf dem Erstklassdeck zu, der mit seiner Kino-Kodak die Wellen fotografiert. Ein neuer Sport für Leute mit Geld, aber Storni weiß, dass es auch ohne Kamera geht. Sie hat die Textform „Kodak“ erfunden, ein Flash in Worten. Ein paar davon sind kurz vor ihrer Abreise aus Buenos Aires in der Zeitung La Nación erschienen: „Dein erster Blick durchdrang schlagartig die zehntausend Tage meines Lebens.“ Als Storni am 10. Januar 1930 in Barcelona an Land geht, ist sie fast ein Star. Man kennt ihren Namen aus großen Kulturzeitschriften, sie gibt Interviews, auch mit ihrer Reisegefährtin und Arbeitskollegin am Konservatorium, und staunt über den Pluralismus in Spanien: Wie schön kann die Welt sein, wenn alle ihren Platz haben.

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