Aktivismus – Fusion Festival 2024: Raven gegen Antisemitismus

Wie in autonomen Zentren und in Hochschulen wird auch auf der Fusion der Nahostkonflikt vor allem auf den Toiletten ausgetragen. Es ist Donnerstagmittag, in der Kabine des Klos, auf dem ich gerade sitze, hat jemand „Fuck Anti-Deutsche“ hingeschmiert, daneben ein Sticker gegen „Israeli Apartheid“. Ich überklebe es mit einem „Free Gaza from Hamas“-Aufkleber und seufze. Das werden sicher noch ein paar anstrengende Tage.

Kurz nach dem Massaker des 7. Oktober, an dem die islamistische Terrorgruppe Hamas unter anderem das Nova-Festival überfallen und die feiernden Gäste vergewaltigt, ermordet und in Geiselhaft verschleppt hatte, veröffentlichte der Kulturkosmos, der das Fusion Festival organisiert, eine Stellungnahme in Solidarität mit den Opfern. Der Terroranschlag der Hamas wurde heftig verurteilt und sich auch für das Existenzrecht Israels ausgesprochen – ein politischer Mindeststandard, der bei aller legitimen Kritik von beispielsweise der ultrarechten Netanjahu-Regierung oder der israelischen Kriegsführung eingehalten werden muss.

Ich selbst bin ja keine Festivalgängerin. Ich finde es falsch, mir für den Toilettengang Schuhe anziehen zu müssen, ich misse auch ungerne mein Bett, meine Badewanne und meine Küche. Ich schlafe gerne aus, ohne im Zelt bei lebendigem Leibe gekocht zu werden, und ich freue mich, nach Punk-Konzerten oder Clubnächten in die Stille meiner Wohnung zurückkehren zu können. Außerdem bin ich über 30.

Der vernünftige, offene Brief des Kulturkosmos und vor allem ein Fusion-erprobter Freund*innenkreis weckten in mir zum ersten Mal seit zehn Jahren das Bedürfnis, wieder nach Lärz zu fahren: vor der Turmbühne im Sand zu stampfen, die psychedelischen Skulpturen auf dem Gelände zu bewundern und mir ganz fest vorzunehmen, auf politische Info-Veranstaltungen zu gehen und dann doch währenddessen auf dem Hangar zu versacken. Dann kam der Nachschlag, verfasst auf den Druck von Gruppen und Einzelpersonen aus dem BDS-Umfeld: Das Existenzrecht Israels wurde in einem Newsletter als eine „deutsche Befindlichkeit“ abgetan. Als wäre es keine historisch notwendige Konsequenz, diesen jüdischen Schutzraum anzuerkennen, sondern Ursache eines deutschen Schuldgefühls. Ein immer wiederkehrender Vorwurf, um Kritik an Antisemitismus zu delegitimieren. Dieser Text war nichts anderes als eine Kapitulation vor dem seit Monaten immer lauter werdenden Geschrei von Gruppierungen wie BDS oder Palestine Speaks, denen es weit weniger um eine Solidarität mit der Zivilbevölkerung in Gaza geht, als darum, ihrem Hass auf den einzig jüdischen Staat der Welt Luft zu machen. Kurz – im Kampf gegen Antisemitismus ist auf den Kulturkosmos leider kein Verlass.

Deshalb haben wir, wie für Linke üblich, die Sache selbst in die Hand genommen. Innerhalb kurzer Zeit formierte sich das lose Netzwerk Fusionistas Against Antisemitism, namentlich angelehnt an den Zusammenschluss Artists Against Antisemitism. Mitglieder der Gruppe verfassten ein Antwortschreiben an den Kulturkosmos mit einer vehementen Kritik an dessen Entsolidarisierung mit jüdischen Menschen.

Widersprüche aushalten – auf der Fusion war das für die Linke kein Problem

Foto: Veronika Kracher

Innerhalb kürzester Zeit stellten die Fusionistas Against Antisemitism ein Programm gegen Antisemitismus auf die Beine. Die Gründe für die Notwendigkeit sind zahlreich. Es ist wichtig, Fragen und Wissenslücken zu den Themen Antisemitismus und Nahost des Fusion-Publikums aufzufangen. Es ist wichtig, aufzuzeigen, dass der Wunsch nach der Vernichtung Israels kein linker Konsens ist. Es ist wichtig, den BDS-Bullies aufzuzeigen, dass es Widerstand gegen ihre autoritären Boykott-Aufrufe gibt (die, wie wir an Orten wie dem ://about blank oder Conne Island erkennen können, letztendlich dazu führen, dass linke Räume in immense finanzielle Schwierigkeiten geraten). Und vor allem ist es wichtig, die Linke und ihre Räume nicht aufzugeben.

Die Kritik von Fusionistas Against Antisemitism blieb auf dem Gelände nicht unbeantwortet. Kurz vor Beginn des Festivals verbreiteten sich besorgniserregende Bilder wie ein Lauffeuer im Internet. Rote Dreiecke – das Symbol, mit dem die Hamas ihre Ziele kennzeichnet. Hass-Aufrufe gegen „Anti-Deutsche“ – inzwischen dient der Begriff vor allem als projektive Zuschreibung für alle Linken, die Israel nicht von der Landkarte gewischt sehen wollen. Der gesprühte Slogan „Von der Müritz an die Spree, Palestine will be free“, der vor allem Zeugnis über das historische und geopolitische Verständnis der antiisraelischen Blase ist. Wir stellen uns darauf ein, dass es ungemütlich werden wird, packen Sticker, Spraydosen, Marker ein, um in den Graffiti-Stellvertreter*innenkrieg zu ziehen. Ein Freund nimmt ein Pfefferspray mit.

Eines der ersten Dinge, die ich sehe, als ich auf dem Gelände ankomme, ist ein an einem Zaun angebrachtes Transparent mit der Aufschrift „Gegen jeden Antisemitismus“, und mir wird leichter ums Herz. Auf unserem Camp blättern wir durch das Programm und sehen die konkreten Auswirkungen unserer Interventionen. „Einführungsworkshop Antisemitismus – Geschichte, Funktionsweisen und Erscheinungsformen“. Veranstaltungen der israelisch-palästinensischen Gruppe Palestinians and Jews for Peace. Die Veranstaltung „Solidarische Bündnisse? – Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen“, bei der Überlebende des antisemitischen Anschlags von Halle sprechen sollten. Sie haben ihre Teilnahme nach dem zweiten Statement des Kulturkosmos abgesagt, als Jüdinnen_Juden ist die Fusion kein sicherer Raum mehr für sie.

Gleich nach Betreten des Geländes fiel der Blick auf dieses Transpi

Foto: Veronika Kracher

Ihre leeren Stühle stehen prominent auf der Bühne, eine der Veranstaltenden liest den offenen Brief der Gruppe vor. Am Ende der Diskussion hört eine junge Frau mit Kufiya, die während eines Videos zum Anschlag in Halle vor sich hin gedöst hat, aufmerksam zu. Ich selbst moderiere eine Veranstaltung mit dem Titel „Linke Verwirrungen“. Es sprechen Cordula Trunk, Amina Aziz und Alisa Limorenko.

Donnerstags übernehme ich eine Schicht am Stand der Berliner Antifa-Gruppe KES und sitze mit einer Genossin in der brütenden Hitze. Wir verkaufen Infomaterial: Bücher zu Antisemitismus, ein von Berliner Schüler*innen erstellter Comic über ihre Reise nach Israel und Palästina, Broschüren zu Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und Islamismus. Und wir verkaufen T-Shirts in Solidarität mit dem Nova-Festival. „Ich habe Bammel, dass wir Stress kriegen“, sage ich zur Genossin und zünde mir eine Zigarette an. Sie nickt. „Ja, ich auch.“

Antideutscher linker Dschihad

Wir kriegen keinen Stress – im Gegenteil. In meinen zwei Stunden am Stand kommen zahlreiche Besucher*innen, um ihre Sympathie und Solidarität auszudrücken und Nova-Shirts zu erwerben – am Ende des Festivals sind sie restlos ausverkauft. Ich sehe einige DJs, die die Shirts während ihrer Sets tragen. Auch andere Künstler*innen äußern sich mehr oder weniger direkt zum Nahostkonflikt – zu beiden Seiten, mehr oder weniger reflektiert. Ein DJ ruft dazu auf, „Antideutsche und andere Rassisten“ von der Fusion zu vertreiben. Der Rapper Grim 104 polemisiert gegen „linke Dschihad-Fans“. Auf Bühnen werden Vorwürfe wie „Siedlerkolonialismus“, „Apartheid“ und „Genozid“, schlagworthaft vorgebracht, aber nicht näher begründet. Einige lassen die Musik für sich sprechen, zum Beispiel die israelische Riot-Grrrl-Band Haze’Evot, die mein persönliches Highlight des Festivals war.

Am Freitag findet eine Solidaritätsaktion für Hersh Goldberg-Polin statt. Der junge Israeli wurde am 7. Oktober verschleppt, er ist in Geiselhaft der Hamas. Letztes Jahr hat er noch auf der Fusion getanzt. Die Aktion wird von seinen Freunden organisiert. Ihre T-Shirts tragen seinen Namen. Wir stehen auf dem Balkon und dem Hangar der Datscha, zünden Pyrotechnik und entrollen Transparente: „We will dance again“, „Killing Jews is not fighting for Freedom“, „Solidarity with Supernova“. Ich bin nicht die Einzige, die Tränen in den Augen hat. „Es ist weit weniger schlimm als erwartet“, einigen wir uns. Das liegt auch daran, dass wir nicht eingeknickt sind. Dass Raum geschaffen worden ist, um mit Empathie über die Komplexität des Nahostkonflikts zu sprechen, um sich gegen Antisemitismus als auch gegen antipalästinensischen Rassismus zu positionieren, um Fragen zu beantworten, um eine Linke zu verteidigen, die Widersprüche aushalten und Kritik üben kann, anstatt sich verkürzten Weltbildern, gefährlicher Halbbildung an die Brust zu werfen. Als ich zufrieden, stolz und erleichtert mein Gepäck Richtung Bus schleppe, sehe ich noch einmal das „We will dance again“-Transparent. Es ist in der Zwischenzeit mit der Aufschrift „In Palestine“ und roten Dreiecken beschmiert worden. Jemand anders hat dies wiederum übersprüht. Der Kampf geht weiter.

Veronika Kracher ist Autorin und arbeitet für die Amadeu Antonio-Stiftung. Eine Langfassung ihres Textes ist bei Kaput Mag erschienen

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