Erdoğans Machtinstrument – Seite 1
Gerechtigkeit und
Aufschwung: Das wünschten sich vor 20 Jahren Umfragen zufolge die meisten Türken. Es war daher wohl kaum Zufall, dass Recep Tayyip Erdoğan und seine Weggefährten eben diese beiden Begriffe in den Namen ihrer neuen Partei aufnahmen, die heute am besten unter ihrer Abkürzung bekannt ist: AKP. Die Botschaft verfing schnell: Ein Jahr nach der Gründung,
bei den Parlamentswahlen am 02. November 2002, erlangte die AKP mit gut 34 Prozent die Mehrheit und
stellte alleine die Regierung. Erdoğan wird damals wegen eines Politikverbots zwar
nicht sofort Ministerpräsident, kontrolliert aber die Geschicke seiner Partei. Nach einer Verfassungsänderung wird er im Jahr 2003 dann offiziell
Regierungschef.
Von Beginn an ist Erdoğan das Herz der AKP. Und das schlägt für den politischen Islam. „Es ist eine
riesige Lüge, dass die Macht dem Volke gehört. Die Macht gehört Allah“, hatte er
in früheren Zeiten gerufen. „Man kann nicht gleichzeitig laizistisch und Muslim
sein“ und „Wir möchten nicht in die EU“, sind weitere Sätze, die er in einer Rede
sagte, als es die AKP noch gar nicht gab. Spätestens mit dem Wahlsieg von 2002 hörte man
solche Aussagen aber nicht mehr von ihm. Die neue Macht der Türkei sollte nach
außen schließlich nicht islamistisch, nicht anti-demokratisch erscheinen.
Die Scharade ging auf. Im
Ausland hofierte man die AKP und feierte ihren Chef Erdoğan 2004 sogar als „Europäer
des Jahres“. Auch im Inland jubelten die Menschen der Partei zu, weil sie Straßen
bauen ließ und vor Wahlen gelegentlich Waschmaschinen verschenkte. Der lang ersehnte
wirtschaftliche Aufschwung fing endlich an. Es wurden Universitäten gebaut, Hochhäuser, neue Infrastruktur. Erdoğans AKP war auch immer eine Partei mit guten Verbindungen zur Bauindustrie. In den späten 2010er-Jahren wandelt sich das Bild: Das wirtschaftliche
Konzept ist nicht sehr nachhaltig. Freien Wettbewerb gibt es immer weniger, Korruption und Vetternwirtschaft
nehmen stetig zu, die Rechtssicherheit stetig ab, die Außenpolitik wird unverlässlicher, Menschenrechte verlieren an Bedeutung.
Dennoch gilt es jahrelang
in der Türkei als schick, der AKP anzugehören. Die Partei bringt
eine neue Elite hervor. Ihre Frauen tragen stolz den Schleier, den das alte
Establishment noch immer als Zeichen für Rückständigkeit und Unterdrückung sieht.
Die Männer ziehen sich gerne Sakkos mit großen Karos an, wie sie der
Allzeit-AKP-Chef Erdoğan damals selbst sehr oft trägt. In Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft gibt die Partei denen eine Stimme, die bisher keine hatten,
weil sie zu arm, zu muslimisch oder zu ungebildet waren. Der Name des
Republikgründers Atatürk zählt in der AKP immer weniger, der des
Parteichefs, Erdoğan, umso mehr.
Vorwürfe wie die der
Korruption oder Unterschlagung und Kritik gibt es fortwährend – doch sie bleiben ohne gravierende Folgen: Zu Beginn, weil die Wirtschaft noch boomt und dann,
weil für sie kaum Platz ist in der „neuen Türkei“, die Erdoğans AKP geschaffen
hat. Die Partei übernimmt schließlich direkt oder indirekt die Kontrolle über
fast alle Medien, Andersdenkende werden unterdrückt, die
Justiz ausgehebelt. Behilflich sind ihr dabei nicht zuletzt Millionen Anhänger auf den
Straßen und im Internet. Aus Staatskreisen heißt es, dass sie dafür von der AKP
bezahlt werden und die Partei im Gegenzug artig wählen.
Schritt für Schritt
verändert die AKP in ihrer 20-jährigen Regierungszeit das gesamte Land und
bemüht sich, die alten, nationalistisch-laizistischen Grundfesten auszuhöhlen und durch islamische
Werte zu ersetzen, die denen der Muslimbruderschaft mehr ähneln als denen des
gemäßigten Islams Anatoliens. Eine Vielzahl religiöser Imam-Hatip-Schulen wird
eröffnet, das Bildungsniveau sinkt allmählich im internationalen Vergleich,
während die Preise für Alkohol stetig steigen: Seit Regierungsübernahme der AKP
bis 2020 um mehr als 2.000 Prozent.
Irreführender Vergleich mit der CDU
Wegen ihrer religiösen
und konservativen Ausrichtung wird die AKP in Deutschland oft mit der CDU
verglichen. „Völlig irreführend“, schreibt der Historiker Hans-Ulrich Wehler
schon 2004 in einer Publikation. Die AKP sei eine „islamistische
Protestpartei“. Der Zugang zu europäischen Wirtschafts- und Finanzressourcen
gestatte eine großzügige Bedienung der eigenen Klientel. Und: „Die europäische
Religionsfreiheit schützt auch den Islamismus samt seiner ungestörten
Weiterentwicklung.“ Das Ausland fördert die AKP trotzdem weiter politisch und
finanziell, weil man ihr den Wunsch nach Demokratisierung und mehr
Rechtstaatlichkeit glaubt.
Auch große Teile der
türkischen Intellektuellen verfallen dem Charme der AKP. Namhafte Denker und
Künstler wie der Kulturmäzen Osman Kavala, die Sängerin Sezen Aksu oder die
Schriftsteller-Brüder Mehmet und Ahmet Altan sprechen in den ersten Jahren für
Erdoğan und die Partei. Später wird die AKP sie fallen lassen, manche werden im
Gefängnis landen.
Vorher kommt es, wie
beschrieben: Mit Gesetzes- und Verfassungsänderungen unter dem Deckmantel der
Demokratie wird erst das türkische Militär, das sich als Hüter des
laizistischen Staates versteht, entmachtet und Generäle unter Applaus im In-
und Ausland gerichtlich verfolgt oder verhaftet. Viele aus dem alten,
laizistischen Establishment sind deswegen noch heute wütend. Nach einem
Putschversuch im Jahr 2016 wird es in der AKP auffällig unruhig. Von internen
Machtkämpfen ist die Rede, von Intrigen und Gerangel um Geldverteilung für Sekten oder
Unternehmer. In der AKP bilden sich immer neue Fraktionen, die Fluktuation ist
hoch.
Der Unmut in der Bevölkerung wächst
Als schließlich 2019 das
Parlaments- in ein Präsidialsystem umgebaut wird, kommt der Bruch:
Erdoğan wird Staatspräsident, Regierungschef, Oberbefehlshaber der Streitkräfte
und AKP-Vorsitzender in einer Person. Ab jetzt muss de facto jede politische
Entscheidung im Land über seinen Schreibtisch. Die AKP bleibt von Erdoğan abhängig. Seine Macht hängt dagegen nicht mehr von den Stimmen der
Parlamentarier ab, sondern vom Volk. Die Partei ist für ihn ein Werkzeug geworden. Sie dient als Kulisse für seine Reden, über sie wickelt er die
Regierungsgeschäfte ab und sie soll ihm bei den anstehenden
Wahlen in ein paar Monaten wieder zu Mehrheiten verhelfen.
Angesichts steigender
Inflation und sozialen wie strukturellen Problemen wächst aber auch in der
Bevölkerung seit Monaten der Unmut gegen die AKP. Umfragen zufolge liegt sie bei
etwa 30 Prozent. Das sind so wenige Stimmen wie nie. Unter ihren Unterstützern sind nicht nur
Menschen aus armen Gegenden mit der Hoffnung, die guten alten Zeiten kämen zurück. Sie wird auch von den neureichen Eliten gewählt, die stets mehr mit dem Geldbeutel als dem Herzen
bei der AKP waren. Was beide Gruppen vereint, ist die Angst vor der Rückkehr des
wütenden, alten Establishments und die Sorge, wieder in der Bedeutungslosigkeit
zu versinken.
Je schlechter es für die
AKP läuft, umso mehr setzt sie wieder auf die Nationalismus-Karte. Seit 2018
regiert sie etwa mit der ultranationalistischen MHP und selbst Atatürk ist in
Reden und in Propagandavideos der AKP wieder da. Ein paar Prozentpunkte konnte
sie so bereits aufholen. An die Wahlerfolge vergangener Zeiten reicht sie aber noch nicht heran. Wie vor 20 Jahren wünschen sich viele Menschen in der Türkei wieder
Gerechtigkeit und Aufschwung – dieses Mal aber ohne den politischen Islam.