Affekt gegen Verantwortung | Ein Zivilisationsbruch darf durch die Reaktion darauf nicht fortgesetzt werden

Der Mord an der 12-jährigen Luise durch zwei gleichaltrige Mädchen erschüttert die deutsche Öffentlichkeit. Schon kurz nach dem Bekanntwerden der Täterinnen wurden Forderungen laut, das Alter der Strafmündigkeit abzusenken. Beide Täterinnen können durch Gerichte nicht bestraft werden, weil sie mit 12 und 13 Jahren unter der Strafmündigkeitsgrenze von 14 liegen.

Aus Gründen des Jugendschutzes hielten die Ermittler die meisten Details des Tathergangs geheim. Trotzdem sind nun Informationen über den Ablauf und das Kalkül der Täterinnen an die Presse durchgesickert und haben einen enormen Schock ausgelöst.

Beide Täterinnen sind nicht nur für ein solches Verbrechen ungewöhnlich jung sowie weiblich, sondern haben die Tat offenbar geplant und kaltblütig durchgeführt. So sollen sie sich über ihre Straffreiheit vorher im Internet informiert und den Beleg auch bei der Tat mit sich geführt haben. Der Mord geschah dazu denkbar grausam und langwierig, da beide offenbar körperlich nicht in der Lage waren, das Mädchen schnell zu töten. Der Hergang zeugt von großer Entschlossenheit und Grausamkeit.

Aufgrund des enormen Echos in der deutschen Öffentlichkeit und der nun eingetretenen, emotional geführten Debatte über zu erfolgende Konsequenzen (wie eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters, aber auch Formen der Bestrafung) nutze ich meine Plattform hier ungeplant für einen Hinweis auf die Implikationen solcher Straffantasien und den Charakter von Gegengewalt in einer ungleichen Gesellschaft.

Jede Gewalt findet in einem konkreten Kontext statt und berührt bestimmte Interessen der daran Beteiligten oder davon Betroffenen. Das ist sicherlich Konsens und Grundlagenwissen aller einigermaßen sozialistisch orientierten Linken. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Anwendung von Gewalt in speziellen Fällen begründbar oder sogar unvermeidbar, wie die Gegenwehr im Falle eines Angriffs. Insbesondere in der russischen Tradition der Arbeiterbewegung wurde (und wird) mit dieser Argumentation des Klassencharakters von Gewalt die Anwendung von Gewalt gegen Menschen auch präventiv (wie in der Zeit des Roten Terrors) gerechtfertigt.

Gewalt berührt jedoch die Gesellschaft auch immer auf einer allgemeinen Ebene und dies ist ebenso eine materiell ableitbare Wahrheit wie ihr Klassencharakter. In jeder Art von Gesellschaft haben die in ihr lebenden Menschen ein natürliches und wohl kaum zu bestreitendes Interesse an einem humanen Umgang untereinander und möglichst weitreichender Gewaltfreiheit. Je niedriger die Gewaltstatistik, desto besser geht es den Menschen in einem Land.

Deshalb geht die Frage der Reaktion auf schwere Verbrechen sowie allgemeiner der Anwendung von Gewalt gegen Menschen von Seiten des Staates über die Bewertung der gegebenen Klasseninteressen in einer konkreten Situation hinaus.

Die natürliche Reaktion auf Gewalt ist stark emotional und ebenfalls gewaltbereit

Das Erleben schwerer Gewalttaten oder anderen Unrechts berührt die Opfer und die sich ihm verbunden fühlenden Menschen in ihrer Essenz. Ihr Überlebensinstinkt oder ihr darauf oder auf ihrem Fürsorgeverhalten für andere basierendes Grenzempfinden wird verletzt. Die natürlichen, angeborenen Reaktionen darauf beinhalten Fluchtverhalten, Erstarrung oder Zusammenbruch sowie Kampfverhalten und Aggression, zu der wir aus Gründen der Selbsterhaltung auch gegenüber Menschen fähig sind.

Deshalb erleben wir nach Bekanntwerden von Verbrechen wie in Freudenberg ungekannt starke Gefühle von Entsetzen, Abscheu, Wut und Rachebedürfnis. Viele Menschen wünschen sich deshalb unwillkürlich, dass die Täterinnen hart bestraft werden.

Im Affekt werden dann einfach aussehende Lösungen populär, die die aggressive Reaktion der Anteilnehmenden ausdrücken. Dazu gehören besonders Forderungen nach Selbstjustiz, schwerer Bestrafung und Gesetzesänderungen wie jetzt die Forderung nach einer Senkung des Strafmündigkeitsalters.

Auch in linken Kreisen kursieren immer wieder ähnliche Vorstellungen. So wird aus Wut und Hass die Gewalt gegen beispielsweise Sexualstraftäter oder auch Kapitalisten und Oppositionelle zu vielen Gelegenheiten immer wieder beschworen, gefordert oder sogar verherrlicht.

Bei aller Nachvollziehbarkeit und Natürlichkeit solcher starken Gefühle in Bezug auf schwierige Situationen besteht die Erklärung der Menschenrechte nicht ohne Grund.

Gegengewalt hinterlässt Spuren in der Gesellschaft

Ein Grund ist, dass die westliche neuzeitlich-kapitalistische Gesellschaft sich darauf geeinigt hat, dass jedes Leben einen Wert und Recht auf Schutz hat, auch das von Tätern. Dies ist trotz allen Klassencharakters vieler Konfliktsituationen eine zivilisatorische Errungenschaft, die es zu verteidigen gilt.

Ein anderer Grund ist, dass das Leben und die Unversehrtheit von Menschen in manchen Situationen bedroht ist. In Situationen, in denen keine Konfrontation, kein Konflikt herrscht, nichts vorgefallen ist, sind die Menschenrechte in der Regel nicht bedroht. Sie sind dann bedroht, wenn Gewalt, Trauer, Wut, Hass, Konflikte bestehen. Zum Beispiel wegen eines Verbrechens. Eigentlich nur in solchen Situationen geraten die Menschenrechte beteiligter Personen in Gefahr.

Auch und gerade in diesen Fällen müssen die Menschenrechte der Täter(innen) unbedingt gewahrt bleiben. Es müssen dieselben Regeln für den Umgang mit den verantwortlichen Menschen gelten wie sonst auch. Genau wegen dieser Fälle existieren in Deutschland Grundrechte — wegen der Fälle, in denen sie in Frage gestellt werden könnten.

Es ist wichtig, dass sie eingehalten werden, weil sie Teil der Grundlagen unserer Gesellschaft sind. Da, wo sie respektiert werden, werden weniger Gewalt und Hass reproduziert. Da, wo sie nicht eingehalten werden, wird Gewalt normalisiert. Das gilt auch für aus der Situation selbst heraus gesehen klassenpolitisch oder emotional zu rechtfertigende Gewalt.

Niemand hat ein Interesse an einem Staat und einer Gesellschaft nach islamistischer Machart, in der das Credo: Auge um Auge und Faust um Faust gilt und Gewalt immer wieder Gegengewalt provoziert. Auch scheinbar im Dienste des Richtigen stehende Gewalt hat diese zerstörerische Wirkung auf die Zivilisation. Sie verroht Menschen. Deshalb müssen die Grund- und Menschenrechte auch brutalster Täter und Täterinnen unbedingt und in jedem Fall gewahrt bleiben. Jede Anwendung staatlicher Gewalt muss auf das absolut Nötigste beschränkt werden. Im Ganzen und langfristig gesehen ist dies das Beste für das menschliche Zusammenleben und seine Entwicklung.

Ansonsten startet ein Verbrechen einen Zivilisationsbruch, der von der Gesellschaft fortgesetzt wird, indem ebendieser als Begründung für weitere Gewalt herhält. Dies kann keine wünschenswerte Grundlage einer Gesellschaft sein. Es zeugt ebenfalls nicht von Zivilisiertheit, sich institutionalisiert in Reaktion auf eine Gewalttat auf dasselbe Niveau herabzulassen.

Aufgeklärte Politik reagiert nicht im Affekt

Menschen werden dann emotional erwachsen, wenn sie lernen, handlungsfähig zu werden, für sich selbst zu sorgen und aus der unmittelbaren Reaktion auf einen Reiz herauszukommen. Eine Pause zwischen Reiz und Reaktion ebenso wie zwischen Impuls und Handlung verschafft einem Menschen die Möglichkeit, überlegt und damit verantwortungsvoll statt affektiv zu handeln.

Emotional erwachsene Menschen sind so der kindlichen existenziellen Abhängigkeit der Eltern entwachsen, die ihnen von Angst um Verlust freies Handeln unmöglich macht. Erwachsen Gewordene sind innerlich frei von Angst und Abhängigkeit, denn sie haben die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen. Dem entspricht die Fähigkeit, überlegt und jenseits der Ebene von Rache und Hass zu handeln. Sie haben die Freiheit, aus Weitsicht, Großzügigkeit und Verantwortungsgefühl zu handeln.

Gewaltforderungen im Affekt sind anti-aufklärerisch und reaktionär. Das Erbe des Kapitalismus, den Wert des Individuums und auch seines selbstverantwortlichen Handelns entdeckt zu haben, muss gepflegt und weitergeführt werden. Der Weg in die Zukunft geht in die Richtung eigenverantwortlich handelnder Menschen, die fähig sind, in ihrer Menschlichkeit ihre eigenen und die Bedürfnisse anderer zu respektieren.

Dazu gehört ein besonnener Umgang mit verstörenden Verbrechen wie dem an Luise. Über konkrete Maßnahmen sollte nachgedacht werden, sobald die Gemüter sich beruhigt haben und mehr Informationen zur Verfügung stehen sowie in Angriff genommene Konsequenzen durchdacht worden sind.

Dazu gehört auch ein entsprechendes Verhältnis zur Anwendung politischer Gewalt. Auch der noch so antikapitalistische, antibürgerliche Akt ändert nichts an den schwerwiegenden gesellschaftlichen (und für die Handelnden auch individuellen psychischen) Folgen für die Funktionsweise der ganzen Gesellschaft. Gewalt darf nur dort und in dem Umfang angewendet werden, in dem sie absolut unvermeidbar ist. Ausschweifende Terror- oder Bestrafungsfantasien gehören nicht dazu.

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