75 Jahre Bundesrepublik: Großes Deutschland, welches nun?

Deutschland steht vor Richtungsentscheidungen, was seine Rolle in der EU und der Welt betrifft. Timothy Garton Ash entwickelt sie in diesem Essay aus den historischen und geopolitischen Voraussetzungen Deutschlands. Timothy Garton Ash forscht an
den Universitäten Oxford und Stanford zu Zeitgeschichte. Sein neuestes Buch
„Europa: Eine persönliche Geschichte“ (Hanser) ist inzwischen in 23
Sprachen übersetzt und erhielt neulich den Lionel Gelber Prize. Die
englischsprachige Fassung dieses Textes ist zuerst in der „New York Review of
Books“
erschienen.

Anders als Menschen können Länder
gleichzeitig alt und jung sein. Vor mehr als 1.900 Jahren schrieb Tacitus ein
Buch über ein faszinierendes Volk namens Germanen. Im 15. Jahrhundert rühmte
Aeneas Silvius Piccolomini, besser bekannt als Papst Pius II., in seiner
Abhandlung Germania, es gebe in Europa „kein Volk, dessen Städte so
sauber sind und einen so erfreulichen Anblick bieten wie die deutschen“. Doch
der Staat, den wir heute als Deutschland kennen – die Bundesrepublik
Deutschland –, feiert am 23. Mai erst seinen 75. Geburtstag. Seine heutige
territoriale Gestalt besitzt er seit etwas weniger als 34 Jahren, seit der
Wiedervereinigung der ursprünglichen Bundesrepublik und der DDR am 3. Oktober
1990, die auf den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 folgte.

Doch auch die Nachmauerzeit ist
bereits vorbei, und alle Welt, einschließlich der Deutschen, fragt sich, was
Deutschland als Nächstes sein wird. Nicht nur, was es tun wird; was es sein
wird. In seinem ausgezeichneten Buch Deutschland. Geschichte einer Nation –
von 1500 bis zur Gegenwart
erinnert uns der deutsch-amerikanische
Historiker Helmut Walser Smith daran, wie viele Deutschlands es im Laufe der
fünf Jahrhunderte schon gegeben hat, seit Piccolominis Germania 1496
erstmals gedruckt wurde. Nicht nur die Grenzen und politischen Systeme haben
sich wiederholt geändert, sondern auch die wichtigsten Eigenschaften, die man
mit der deutschen Nation verbindet.

Manchmal war der dominante Akkord
kulturell: das Land der Dichter und Denker, die von Madame de Staël in Über
Deutschland
(1813) beschriebene patrie de la pensée (Heimat des
Denkens) oder jenes Deutschland, das laut George Eliot „den härtesten Kampf um
die Gedankenfreiheit geführt, die größten Erfindungen gemacht, großartige
Beiträge zur Wissenschaft geleistet, uns einige der göttlichsten Gedichte und
überhaupt die göttlichste Musik der Welt geschenkt hat“.

Nach zwei Weltkriegen und dem
Grauen der Nazizeit setzten viele Deutschland natürlich mit Militarismus
gleich. Smith zeigt aber, dass erst die preußischen und dann die deutschen
Militärausgaben in Wirklichkeit seit zwei Jahrhunderten einer Achterbahnfahrt
glichen.

Sehr oft hat man die deutsche
Nation mit wirtschaftlicher Entwicklung und Leistungsfähigkeit
identifiziert. Dieser Aspekt wurde von dem Princetoner Historiker Harold James
eindringlich in seinem Buch Deutsche Identität 1770–1990 entfaltet, das
im Original im Jahr des Mauerfalls erschien. Vorausschauend schrieb James,
Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, „sollte uns
davor warnen, Merkur“ – dem Gott des Handels – „allzu sehr zu trauen“.

Nachmauer-Deutschland vertraute auf
Merkur. Nachdem Westdeutschland unter Kanzler Helmut Kohl sein Ziel einer
Wiedervereinigung zu westlichen Bedingungen unerwartet erreicht hatte, verlegte
die alte-neue Bundesrepublik ihre Hauptstadt von der Kleinstadt Bonn ins zuvor
geteilte Berlin und richtete sich als zufriedene Status-quo-Macht
ein. Ganz im Sinne des allgemeinen damaligen Zeitgeistes war es die ökonomische
Dimension der Macht, die sich durchsetzte.

Deutschlands Geschäft ist das Geschäft

Der Historiker James Sheehan hat
das als Primat der Wirtschaftspolitik charakterisiert, doch war es insbesondere
das Primat der Wirtschaft. „Amerikas Geschäft ist das Geschäft“ lautet eine dem
US-Präsidenten Calvin Coolidge zugeschriebene Bemerkung. Würde man über die
Berliner Nachmauer-Republik sagen, „Deutschlands Geschäft ist das Geschäft“, so
wäre das durchaus zutreffend. Darin eingeschlossen wäre der sehr unmittelbare
Einfluss der deutschen Wirtschaft auf die Bundesregierungen, der durch das
spezifisch westdeutsche System kooperativer Beziehungen zwischen Arbeitgebern
und Gewerkschaften namens Mitbestimmung noch verstärkt wird. Wenn es nicht die
Bosse der großen Automobil- oder Chemieunternehmen waren, die mit dem
Kanzleramt telefonierten, dann die Gewerkschaftsführer, und alle drängten auf
irgendeine lukrative Abmachung. (Firmenchefs und Gewerkschaftsführer konnten es
dann unter sich ausmachen, wie sie den hieraus entstandenen Kuchen aufteilten.)

Im Jahr 2021 verdankten sich
erstaunliche 47 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts der Ausfuhr von
Gütern und Dienstleistungen. Das spektakulärste Wachstum erfolgte im Handel mit
China, von dem sich Deutschland erheblich abhängiger machte als irgendein
anderes europäisches Land. Und obwohl es sich selbst als eine zivile Macht verstand, exportierte es jede Menge Waffen aus deutscher
Produktion, darunter zwischen 2013 und 2018 fast 300 Taurus-Marschflugkörper
nach Südkorea – genau jenes Raketensystem, das Bundeskanzler Olaf Scholz der
angegriffenen Ukraine so hartnäckig verweigert. Zwischen 2019 und 2023 betrug
Deutschlands Anteil an den globalen Waffenexporten 5,6 Prozent, noch vor
Großbritannien. Mars im Dienste Merkurs.

Nach der Osterweiterung von EU und
Nato war Deutschland nicht mehr durch die Unsicherheiten eines Frontstaats
geprägt. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) sah darin die
Befreiung des Landes aus seiner verhängnisvollen historischen „Mittellage“
zwischen Ost und West, da es nunmehr zum Glück von befreundeten Mitgliedern des
geopolitischen Westens umgeben war. Entsprechend sanken seine
Verteidigungsausgaben bis 2005 auf lediglich 1,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts
(BIP).

Deutschland steht vor Richtungsentscheidungen, was seine Rolle in der EU und der Welt betrifft. Timothy Garton Ash entwickelt sie in diesem Essay aus den historischen und geopolitischen Voraussetzungen Deutschlands. Timothy Garton Ash forscht an
den Universitäten Oxford und Stanford zu Zeitgeschichte. Sein neuestes Buch
„Europa: Eine persönliche Geschichte“ (Hanser) ist inzwischen in 23
Sprachen übersetzt und erhielt neulich den Lionel Gelber Prize. Die
englischsprachige Fassung dieses Textes ist zuerst in der „New York Review of
Books“
erschienen.

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