Die 75. Berlinale beginnt, erstmals unter der Leitung von Tricia Tuttle. Tilda Swinton wird am Eröffnungsabend geehrt. In unserem Slowblog berichten Daniel Gerhardt, Marlene Knobloch, Katja Nicodemus und Carolin Ströbele von Premieren und Pressekonferenzen. Wir beobachten, was am und neben dem roten Teppich passiert und erzählen natürlich, welche Filme uns begeistert oder enttäuscht haben.
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Tom Tykwer, der das Festival in diesem Jahr – zum dritten Mal übrigens schon – eröffnet, bezeichnete im Gespräch mit ZEIT ONLINE seinen Film Das Licht als einen Beitrag, der "akuter nicht sein könnte". In dem dreistündigen Film mit Lars Eidinger und Nicolette Krebitz, der außer Konkurrenz läuft, spielt Tara Al-Deen eine syrische Haushaltshilfe, die das Leben einer vierköpfigen Berliner Familie nachhaltig verändert.
Was ist noch neu bei dieser Berlinale? Tricia Tuttle hat den von Chatrian eingeführten zweiten, immer unter Radar fliegenden Wettbewerb Encounters gestrichen und dafür eine neue Reihe für Regiedebüts eingeführt: Perspectives. Generell scheint Tuttle mehr auf den filmischen Nachwuchs zu setzen. Im Wettbewerb sind ebenfalls zwei Debüts zu sehen. Insgesamt konkurrieren 19 Filme um den Goldenen Bären.
Eine Filmfestivalleitung wird immer daran gemessen, wie ihre die Jonglage aus guten Filmen, Geld und Glamour gelingt. Was Letzteres betrifft: Es werden sich gleich mehrere gefeierte Filmstars im verschneiten Berlin die Füße abfrieren. Da wäre etwa Timothée Chalamet, der am Freitag seine oscarnominierte Bob Dylan-Hommage Like A Complete Unknown vorstellt, außerdem Jacob Elordi (Saltburn), der mit der Serie The Narrow Road to the Deep North vertreten ist. Am Wochenende werden dann Margaret Qualley und Ethan Hawke erwartet. Sie spielen in Richard Linklaters neuem Film Blue Moon mit. Außerdem in Berlin: der Oscarpreisträger Bong Joon-ho (Parasite) stellt seinen neuen Film Mickey 17 mit Robert Pattinson in der Hauptrolle vor.
Der heutige Eröffnungsabend aber steht im Zeichen einer großen Dame des internationalen Arthouse-Kinos: Tilda Swinton. Die britische Schauspielerin und Oscarpreisträgerin war schon mit vielen Filmen auf der Berlinale vertreten und 2009 Jurypräsidentin des Festivals. Nun erhält sie den Goldenen Ehrenbären, die Laudatio übernimmt der Oscarpreisträger Edward Berger (Im Westen nichts Neues). Insgesamt soll die Zeremonie kürzer werden, und – letzte Neuerung – Reden von politischen Amtsträgerinnen wurden abgeschafft.
Eigentlich passt nichts zusammen an diesem Eröffnungsabend. Nicht die fest geschnürten Lederkorsetts der Berghain-Promis mit dem luftigen, weißen Kleid von Toni Garrn. Nicht das im Schnee frierende Grüppchen aus 30 Leuten und der Armani-Showroom, vor dem sich die Mahnwache für die israelischen Geiseln versammelt hat. Nicht die vielen politischen Forderungen auf Schildern und Schals und das gerade parallel laufende TV-Quadrell zur Bundestagswahl. Vielleicht kann das nur Tilda Swinton gelingen, vielleicht ist Tilda Swinton deswegen auf der Welt, um mit ihren blassen, langen Fingern all die herumfliegenden Schnipsel aus der aufgepeitschten Luft einzufangen.
Enttäuscht muss man feststellen, dass man selbst jemanden wie mich über den Roten Teppich laufen lässt, am Rand lassen die Fotografen ihre Kameras wie welke Blumen hängen. Aber auch das ist die Berlinale, alles etwas legerer, ohne Smoking-Pflicht, mit Geisterfahrern am Roten Teppich. Elyas M’Barek trägt Samtsakko mit passender Samtfliege, Luisa Neubauer marschiert in die nicht unangespannte Gesamtsituation mit Statement-Kleid, auf dem "Donald & Elon & Alice / Friedrich?" steht, womit die analytische Präzision der bundesrepublikanischen Lage dieses Festivals umrissen wäre. Eine Frau im roten Kleid hält ein Schild hoch, auf dem "Menstruation is a human right" steht, und während man rätselt, wie genau dieser Satz gemeint sein könnte, erdet Berlins ehemalige Bürgermeisterin Franziska Giffey alles um sich herum mit einem Blumenkleid, das, nun ja, volksnah wirkt.
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Auf dem Weg zum Saal begegnet mir Andrea Sawatzki mit Davidstern um den Hals. Sie öffnet ihre Handtasche und zieht ein Schwarz-weiß-Foto raus. Darauf ein lachender Mann, der zwei kleine Kinder umarmt. Das Foto hielt Sawatzki gerade mit Ulrich Matthes, Iris Berben, der Berlinale-Chefin Tricia Tuttle und fünf anderen Mutigen in die Kamera. Es scheinen nicht alle zufrieden über den Verlauf des letztjährigen Festivals, bei dem kaum bis gar nicht über die Tatsache gesprochen wurde, dass ein ehemaliger Berlinale-Teilnehmer am 7. Oktober 2023 von der Hamas als Geisel genommen wurde und wiederholte Bitten der Angehörigen, dies während des Festivals zu thematisieren, ignoriert wurden. Zumindest das lässt sich an diesem Abend sofort erkennen: Ein paar Sachen sollen auf dieser Berlinale anders werden.
Im Saal, nachdem Désirée Nosbusch der Berlinale zum 75. Geburtstag gratuliert, an die Menschen in München erinnert, Tricia Tuttle begrüßt hat und man nicht mehr genau sagen kann in welcher Reihenfolge, tritt schließlich einer unserer Exporterfolge, der Oscar-Preisträger und dieses Jahr wieder Oscar-nominierte Regisseur Edward Berger auf die Bühne, um seine Rede auf Tilda Swinton vorzulesen, der der Goldene Ehrenbär verliehen wird. Einen Brief habe er für Tilda Swinton geschrieben, sagt er, aus Hilflosigkeit. In all ihren Filmen habe er gesucht, in ihrer cineastischen Historie, in ihrer Vorliebe für Regisseure, in ihrer Rollenwahl nach dem Geheimnis, "warum die ganze Welt dich liebt". Bis er feststellte: "Du bist eine außergewöhnlich schöne Seele, nicht mehr und nicht weniger."
Selbst Tilda Swinton, die die korallrosa Lippen bis dahin königlich zusammenhielt, bei der nur die zuckenden Mundwinkel verrieten, dass dieser Abend eben nicht noch ein Termin im Kalender eines Filmstars war ("Award Berlinale"), sondern dieses Festival, das sie mit 25 Jahren zum ersten Mal besuchte, tatsächlich etwas zu bedeuten schien, selbst dieser meisterlichen Fassungswahrerin steigen Tränen in die Augen. Als Swinton auf die Bühne läuft, springt der Saal auf, Kai Wegner, Claudia Roth, Lars Eidinger, Tom Tykwer, Iris Berben, die Filmprominenz hält ihre Handys hoch, um einen Weltstar zu filmen.
Und es ist nicht besonders originell, sich vor der Filmbranche gegen Donald Trump auszusprechen, gegen "Besetzung, Kolonisierung, Übernahme" und "Riviera-Grundstücks-Landbesitz" (tosender Applaus). Und es flirrte schon genug Unheil in diesem Stündchen Gegenwart, bevor Swinton über die "Massenmorde" sprach, die gerade "mehr als einen Teil der Welt terrorisieren". Es bleibt doch die Frage, was diese gegenseitige Selbstversicherung bewirkt. Andrerseits hält Swinton dagegen die einfache Tatsache, dass für etwas zu sein, nie bedeutet, gegen irgendjemanden zu sein. Und vor allem hält Swinton gegen das Grauen der Welt das Kino, die Stille, das gemeinsame Fühlen beim Schauen, die Bewunderung für die menschliche Flexibilität, die Kraft des gesprochenen wie nicht gesprochenen Worts, das Wunder der Zeitlosigkeit. "Es tut uns so gut, über die Welt zu staunen." Und wahrscheinlich ist das die hilfreichste Antwort auf die Ereignisse dieses verschneiten Eröffnungstags.
Eigentlich passt nichts zusammen an diesem Eröffnungsabend. Nicht die fest geschnürten Lederkorsetts der Berghain-Promis mit dem luftigen, weißen Kleid von Toni Garrn. Nicht das im Schnee frierende Grüppchen aus 30 Leuten und der Armani-Showroom, vor dem sich die Mahnwache für die israelischen Geiseln versammelt hat. Nicht die vielen politischen Forderungen auf Schildern und Schals und das gerade parallel laufende TV-Quadrell zur Bundestagswahl. Vielleicht kann das nur Tilda Swinton gelingen, vielleicht ist Tilda Swinton deswegen auf der Welt, um mit ihren blassen, langen Fingern all die herumfliegenden Schnipsel aus der aufgepeitschten Luft einzufangen.
Enttäuscht muss man feststellen, dass man selbst jemanden wie mich über den Roten Teppich laufen lässt, am Rand lassen die Fotografen ihre Kameras wie welke Blumen hängen. Aber auch das ist die Berlinale, alles etwas legerer, ohne Smoking-Pflicht, mit Geisterfahrern am Roten Teppich. Elyas M’Barek trägt Samtsakko mit passender Samtfliege, Luisa Neubauer marschiert in die nicht unangespannte Gesamtsituation mit Statement-Kleid, auf dem „Donald & Elon & Alice / Friedrich?“ steht, womit die analytische Präzision der bundesrepublikanischen Lage dieses Festivals umrissen wäre. Eine Frau im roten Kleid hält ein Schild hoch, auf dem „Menstruation is a human right“ steht, und während man rätselt, wie genau dieser Satz gemeint sein könnte, erdet Berlins ehemalige Bürgermeisterin Franziska Giffey alles um sich herum mit einem Blumenkleid, das, nun ja, volksnah wirkt.
Luisa Neubauer auf dem Roten Teppich der Berlinale.dpa/Sebastian Gollnow
Auf dem Weg zum Saal begegnet mir Andrea Sawatzki mit Davidstern um den Hals. Sie öffnet ihre Handtasche und zieht ein Schwarz-weiß-Foto raus. Darauf ein lachender Mann, der zwei kleine Kinder umarmt. Das Foto hielt Sawatzki gerade mit Ulrich Matthes, Iris Berben, der Berlinale-Chefin Tricia Tuttle und fünf anderen Mutigen in die Kamera. Es scheinen nicht alle zufrieden über den Verlauf des letztjährigen Festivals, bei dem kaum bis gar nicht über die Tatsache gesprochen wurde, dass ein ehemaliger Berlinale-Teilnehmer am 7. Oktober 2023 von der Hamas als Geisel genommen wurde und wiederholte Bitten der Angehörigen, dies während des Festivals zu thematisieren, ignoriert wurden. Zumindest das lässt sich an diesem Abend sofort erkennen: Ein paar Sachen sollen auf dieser Berlinale anders werden.
Im Saal, nachdem Désirée Nosbusch der Berlinale zum 75. Geburtstag gratuliert, an die Menschen in München erinnert, Tricia Tuttle begrüßt hat und man nicht mehr genau sagen kann in welcher Reihenfolge, tritt schließlich einer unserer Exporterfolge, der Oscar-Preisträger und dieses Jahr wieder Oscar-nominierte Regisseur Edward Berger auf die Bühne, um seine Rede auf Tilda Swinton vorzulesen, der der Goldene Ehrenbär verliehen wird. Einen Brief habe er für Tilda Swinton geschrieben, sagt er, aus Hilflosigkeit. In all ihren Filmen habe er gesucht, in ihrer cineastischen Historie, in ihrer Vorliebe für Regisseure, in ihrer Rollenwahl nach dem Geheimnis, „warum die ganze Welt dich liebt“. Bis er feststellte: „Du bist eine außergewöhnlich schöne Seele, nicht mehr und nicht weniger.“
Selbst Tilda Swinton, die die korallrosa Lippen bis dahin königlich zusammenhielt, bei der nur die zuckenden Mundwinkel verrieten, dass dieser Abend eben nicht noch ein Termin im Kalender eines Filmstars war („Award Berlinale“), sondern dieses Festival, das sie mit 25 Jahren zum ersten Mal besuchte, tatsächlich etwas zu bedeuten schien, selbst dieser meisterlichen Fassungswahrerin steigen Tränen in die Augen. Als Swinton auf die Bühne läuft, springt der Saal auf, Kai Wegner, Claudia Roth, Lars Eidinger, Tom Tykwer, Iris Berben, die Filmprominenz hält ihre Handys hoch, um einen Weltstar zu filmen.
Und es ist nicht besonders originell, sich vor der Filmbranche gegen Donald Trump auszusprechen, gegen „Besetzung, Kolonisierung, Übernahme“ und „Riviera-Grundstücks-Landbesitz“ (tosender Applaus). Und es flirrte schon genug Unheil in diesem Stündchen Gegenwart, bevor Swinton über die „Massenmorde“ sprach, die gerade „mehr als einen Teil der Welt terrorisieren“. Es bleibt doch die Frage, was diese gegenseitige Selbstversicherung bewirkt. Andrerseits hält Swinton dagegen die einfache Tatsache, dass für etwas zu sein, nie bedeutet, gegen irgendjemanden zu sein. Und vor allem hält Swinton gegen das Grauen der Welt das Kino, die Stille, das gemeinsame Fühlen beim Schauen, die Bewunderung für die menschliche Flexibilität, die Kraft des gesprochenen wie nicht gesprochenen Worts, das Wunder der Zeitlosigkeit. „Es tut uns so gut, über die Welt zu staunen.“ Und wahrscheinlich ist das die hilfreichste Antwort auf die Ereignisse dieses verschneiten Eröffnungstags.
Die Berlinale, die sich immer wieder als „politisches Festival“ bezeichnet, könnte in diesem Jahr politischer kaum sein. Man kann sie gleichsam als Countdown zur Bundestagswahl sehen. Wenn am 23. Februar das Festival mit dem Publikumstag endet, stehen die Menschen in Deutschland gerade in den Wahllokalen. Den Juryvorsitz hat in diesem Jahr der US-amerikanische Regisseur Todd Haynes inne. Im ZEIT-Interview sagte er, Filmschaffende müssten „es hinkriegen, dass wir uns nicht niedermachen lassen“. Die Herausforderung sei, „ob es uns gelingt, die gegenwärtige Stimmung in den USA auf die Leinwand zu bringen.“
Tuttle und Jury-Präsident Todd Haynes.Julie Edwards/Avalon/imago
Tom Tykwer, der das Festival in diesem Jahr – zum dritten Mal übrigens schon – eröffnet, bezeichnete im Gespräch mit ZEIT ONLINE seinen Film Das Licht als einen Beitrag, der „akuter nicht sein könnte“. In dem dreistündigen Film mit Lars Eidinger und Nicolette Krebitz, der außer Konkurrenz läuft, spielt Tara Al-Deen eine syrische Haushaltshilfe, die das Leben einer vierköpfigen Berliner Familie nachhaltig verändert.
Was ist noch neu bei dieser Berlinale? Tricia Tuttle hat den von Chatrian eingeführten zweiten, immer unter Radar fliegenden Wettbewerb Encounters gestrichen und dafür eine neue Reihe für Regiedebüts eingeführt: Perspectives. Generell scheint Tuttle mehr auf den filmischen Nachwuchs zu setzen. Im Wettbewerb sind ebenfalls zwei Debüts zu sehen. Insgesamt konkurrieren 19 Filme um den Goldenen Bären.
Eine Filmfestivalleitung wird immer daran gemessen, wie ihre die Jonglage aus guten Filmen, Geld und Glamour gelingt. Was Letzteres betrifft: Es werden sich gleich mehrere gefeierte Filmstars im verschneiten Berlin die Füße abfrieren. Da wäre etwa Timothée Chalamet, der am Freitag seine oscarnominierte Bob Dylan-Hommage Like A Complete Unknown vorstellt, außerdem Jacob Elordi (Saltburn), der mit der Serie The Narrow Road to the Deep North vertreten ist. Am Wochenende werden dann Margaret Qualley und Ethan Hawke erwartet. Sie spielen in Richard Linklaters neuem Film Blue Moon mit. Außerdem in Berlin: der Oscarpreisträger Bong Joon-ho (Parasite) stellt seinen neuen Film Mickey 17 mit Robert Pattinson in der Hauptrolle vor.
Der heutige Eröffnungsabend aber steht im Zeichen einer großen Dame des internationalen Arthouse-Kinos: Tilda Swinton. Die britische Schauspielerin und Oscarpreisträgerin war schon mit vielen Filmen auf der Berlinale vertreten und 2009 Jurypräsidentin des Festivals. Nun erhält sie den Goldenen Ehrenbären, die Laudatio übernimmt der Oscarpreisträger Edward Berger (Im Westen nichts Neues). Insgesamt soll die Zeremonie kürzer werden, und – letzte Neuerung – Reden von politischen Amtsträgerinnen wurden abgeschafft.