7. Oktober: Alles ist politisch geworden, selbst dasjenige Sterben

Vor einem Monat kam mein Vater aus
Deutschland in Israel zu Besuch. Es waren relativ ruhige zehn Tage. Nur an
einem Morgen scheuchte uns ein Raketenalarm im Nachbarort vor Tel Aviv aus dem
Bett. Tagsüber spielte er mit seinem Enkel, unserem Sohn, abends schaute er mit
uns israelische Nachrichten.

Es waren zehn Tage mit vielen
Trauerfeiern. Im Fernsehen sah mein Vater Eltern ihre Kinder zu Grabe tragen:
Soldaten und Geiseln, darunter sechs junge Erwachsene, die fast elf Monate in
Gefangenschaft in Gaza überlebt hatten, bevor sie kurz vor einer möglichen
Befreiung von ihren Peinigern erschossen wurden. Er sah die Bilder des Tunnels
unter Rafah, die Blutlachen, die Säcke mit Plastikflaschen voller Urin:
Zeugnisse monatelanger Gefangenschaft, ohne Toilette, in völliger Finsternis,
ohne Platz, um aufrecht zu stehen. Mein Vater sah Geschichten von Tod, von
Abschied und Verlust, von Trauer und Trauma. Und er sah meine Tränen über die
letzten Worte einer Mutter an ihr getötetes Kind. „Das ist schwer auszuhalten“,
sagte er mit belegter Stimme. Ich sah seine Erschütterung und verstand in
diesem Moment auch etwas über uns Israelis.

Wir sehen seit inzwischen zwölf
Monaten nichts anderes: unser Leid, unser Trauma, unsere Verluste. Und diese
Sicht hat uns verändert.

Am 7. Oktober 2023 sahen wir die
Bilder von verschleppten Israelis – blutend, angsterfüllt, bewusstlos oder tot,
auf Motorrädern zwischen Hamas-Kämpfer geklemmt, auf Autoladeflächen gestapelt
wie geschlachtetes Vieh. In einem Land mit nur rund zehn Millionen Menschen
kennt jeder jemanden, der am 7. Oktober eine geliebte Person verloren hat, 1.200 von
ihnen für immer. Wir fragten uns, wie lange es dauern würde, bis wir die
Getöteten betrauern und die Verschleppten wiedersehen werden. Bis uns die
Gefühle des Schocks, der Angst, der Wut und Hilflosigkeit endlich wieder
loslassen.

Ein Jahr, 365 Tage Krieg später
sind alle diese Gefühle noch da. Zwar ist es normal geworden, unseren Sohn in
den Bunker zu tragen, wenn Raketen und Drohnen aus dem Libanon, dem Iran, dem
Jemen auf Wohngegenden in Israel geschossen werden. Mein zweieinhalbjähriges
Kind streckt jetzt automatisch seine Arme zu mir aus, sobald er die Sirenen
hört. Doch die Hoffnung, dass alles bald vorbeigehen könnte, ist verloren
gegangen. Die Hoffnung, alle Geiseln wiederzusehen. Die Hoffnung, dass es
irgendjemanden in unserer politischen Führung gibt, der uns aus diesem
Teufelskreis der Angst und des Sterbens herausführen kann – und vor allem will.
Daran haben weder die Tötung der Führung der
Hisbollah noch der Hamas etwas geändert. Daran
werden auch weitere Vergeltungsschläge gegen das islamische Regime im Iran und
seine Proxys nichts ändern. Attentate schwächen vielleicht unsere
Feinde. Sie allein machen uns als Volk aber nicht stärker.

Bei der Beerdigung der jungen Soldatin Roni Eshel. Diese war am 7. Oktober von Hamas-Terroristen ermordet worden.

Nach 365 Tagen Krieg und
andauerndem Terror, wie zuletzt vergangene Woche in Jaffa oder in Be’er Scheva müssen wir der
Tatsache ins Gesicht sehen, dass die Hoffnung auf ein gemeinsames Überwinden
des Traumas – die Israelis nennen es haTkuma, die Auferstehung – die
vielleicht letzte Möglichkeit war, die tief gespaltene israelische Gesellschaft
zu vereinen.

Israel war schon immer eine Nation
der Stämme, Gruppen mit unterschiedlichen Lebensweisen und Vorstellungen davon,
wie dieses Land aussehen soll. Der ehemalige Staatspräsident Reuven Rivlin
fasste in einer Rede (PDF) auf einer Sicherheitskonferenz 2015 die Unterschiede so
zusammen: „Ein Kind aus Beth El, ein Kind aus Rahat, ein Kind aus Herzlia und
ein Kind aus Beitar Illit – sie begegnen sich nicht nur nicht, sondern werden
auch zu einer völlig anderen Sichtweise hinsichtlich der Grundwerte und des
gewünschten Charakters des Staates Israel erzogen.“ Rivlin sah die Spaltung der
israelischen Gesellschaft in vier Gruppen: Säkulare, Nationalreligiöse, Araber
und Ultraorthodoxe. 

Heute sind wir gespalten in jene,
deren wichtigstes Ziel es ist, die Geiseln durch ein Abkommen nach Hause zu
holen und somit auch ein Ende des Kriegs zu akzeptieren. Und jenen, die weiter
für einen „totalen Sieg“ kämpfen wollen. Letztere nehmen in Kauf, dass das
Sterben weitergeht – das der Geiseln, der Soldaten, der Zivilisten in der ganzen
Region. Dabei ist unklarer denn je, wie ein langfristiger Sieg über die
Terrorproxys in unserer Nachbarschaft aussehen soll.

In derselben Stunde, als das islamische Regime in Teheran Israel mit mehr als 180 ballistischen Raketen
beschoss
, töteten zwei Terroristen aus dem Westjordanland sieben Menschen in
und vor der Straßenbahn in Jaffa, wenige Meter von der Wohnung entfernt, in der
wir bis Dezember wohnten. Die angeblich begrenzte Bodenoffensive der
israelischen Armee
im Libanon läuft nicht einmal seit sieben Tagen und mehr als zehn israelische Soldaten sind bereits gefallen, Hunderttausende Libanesen sind auf der Flucht. Noch ist kein Bewohner Nordisraels in ein sicheres Zuhause zurückgekehrt. Sowohl das islamische Regime im Iran als auch Israel drohen weiter mit Eskalation.

Vor einem Monat kam mein Vater aus
Deutschland in Israel zu Besuch. Es waren relativ ruhige zehn Tage. Nur an
einem Morgen scheuchte uns ein Raketenalarm im Nachbarort vor Tel Aviv aus dem
Bett. Tagsüber spielte er mit seinem Enkel, unserem Sohn, abends schaute er mit
uns israelische Nachrichten.

Es waren zehn Tage mit vielen
Trauerfeiern. Im Fernsehen sah mein Vater Eltern ihre Kinder zu Grabe tragen:
Soldaten und Geiseln, darunter sechs junge Erwachsene, die fast elf Monate in
Gefangenschaft in Gaza überlebt hatten, bevor sie kurz vor einer möglichen
Befreiung von ihren Peinigern erschossen wurden. Er sah die Bilder des Tunnels
unter Rafah, die Blutlachen, die Säcke mit Plastikflaschen voller Urin:
Zeugnisse monatelanger Gefangenschaft, ohne Toilette, in völliger Finsternis,
ohne Platz, um aufrecht zu stehen. Mein Vater sah Geschichten von Tod, von
Abschied und Verlust, von Trauer und Trauma. Und er sah meine Tränen über die
letzten Worte einer Mutter an ihr getötetes Kind. „Das ist schwer auszuhalten“,
sagte er mit belegter Stimme. Ich sah seine Erschütterung und verstand in
diesem Moment auch etwas über uns Israelis.

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