22 Euro pro Flasche: Wasser-Sommeliers Vertrauen schenken, dass Wasser Wein Konkurrenz zeugen kann

Wer nicht zum ersten Mal im French-Dining-Restaurants La Popote in der britischen Grafschaft Cheshire zu Abend isst, wird die Veränderung in der Routine merken. Zuerst kommt wie immer die Speisen-Aufstellung, die die Besitzer – der Koch Joe Rawlins und seine Frau Gaëlle Radigon, die mit ihren Kindern direkt im Stockwerk darüber wohnen – zusammengestellt haben. Es folgt die Weinkarte, die mehr als hundert verschiedene Weinsorten enthält. Und dann, zumindest für Cheshire, neu: eine Wasserkarte.

Der 32-jährige Rawlins zeigt mir die neue Speisekarte, während ich es mir im Speiseraum in einer umgebauten Scheune aus rotem Backstein in Marton gemütlich mache, einem Dorf auf halbem Weg zwischen Manchester und Stoke-on-Trent. Sieben Wassersorten stehen zur Auswahl. Sie reicht von einer Flasche der Marke Crag für fünf Pfund (5,80 Euro), die aus dem nahegelegenen Peak District stammt, bis hin zu Vidago, einem mineralreichen Wasser aus einem portugiesischen Kurort, für das man 19 Pfund (22 Euro) die Flasche hinlegen muss.

Ratlos, warum ich eine Wasserkarte brauche – und darüber, wie eine Flasche mehr kosten kann, als ich für Wein ausgeben würde – wende ich mich an La Popotes Wasser-Sommelier. Doran Binder, der die Karte zusammengestellt hat, gehört zu einer wachsenden globalen Mission von Wasser-Evangelisten mit unerschütterlicher Überzeugung. Für Binder und ähnlich Denkende wurde Wasser viel zu lange vernachlässigt. Er ist der Überzeugung, dass es verdient, wie ein echtes Getränk gefeiert zu werden.

„Wasser ist eine wunderbare Sache. Ich möchte einfach, dass die Leute experimentieren und es auf eine Art und Weise genießen, auf die sie es noch nie getan haben“, erklärt der 53-Jährige, dessen sprühende Begeisterung in der Stimme zu spüren ist. Er spürt meine Skepsis und sagt, es sei völlig in Ordnung, über das Konzept der Wasserkennerschaft zu lachen. „Ich versuche seit Jahren, Restaurants dazu zu bringen, Wasser einen höheren Stellenwert zu geben. Aber ich glaube, die Leute sind nervös, weil man entweder ein Pionier ist oder eine Lachnummer. Lachen ist gut. Mir zeigt es nur, dass unser Verhältnis zu Wasser nicht richtig ist.“

Mineralgehalt: „Super-niedriges“ isländische Gletscherwasser

Ich wähle die Krebs-Vorspeise, ein klassisches, auf Mayonnaise basierendes Gericht mit Fenchel und Apfel. „Ich würde dazu wahrscheinlich Lauretana probieren oder vielleicht das isländische Gletscherwasser, wenn Sie es nicht sprudelig mögen. Einfach aus dem Grund, dass es „super-niedrig“ ist und das zarte Krebsfleisch nicht überwältigt“, empfiehlt Binder, dessen Wikinger-roter Bart (er ist halb Däne) seine Online-Persona inspiriert hat, den Bearded Water Sommelier. Er erzählt, dass er monatlich in den sozialen Medien insgesamt auf sieben Millionen Klicks kommt.

Mit „Super-niedrig” ist hier der Mineralgehalt des Wassers gemeint, ein entscheidender Faktor für dessen Geschmack. Was den Kauf von Wasser betrifft, bin ich wirklich hinterher, warne ich Binder, der hilft, die Kellner des Restaurants zu schulen. Ich habe noch nie Flaschenwasser gekauft und mag mein lokales hartes kalkhaltiges Londoner Wasser aus dem Hahn mit Noten von Chlor. Abgesehen davon, dass ich manchmal kurz bemerkt habe, dass das Leitungswasser in anderen Landesteilen weicher ist, schenke ich Wasser wenig Aufmerksamkeit.

Jedenfalls lässt sich der Mineraliengehalt messen, indem man eine Probe verdampfen lässt und wiegt, was an Milligramm pro Liter an gelösten Feststoffen (TDS) übrigbleibt. Es geht um Natrium, Kalzium, Magnesium und Kalium. Weiche Wassersorten, also mit wenig TDS-Gehalt, sind mild und haben sich wenig verändert, seit sie vom Himmel geregnet sind, egal ob sie in einem Gletscher eingeschlossen waren oder schnell durch eine Quelle zirkuliert sind. Hartes Wasser mit entsprechend hohem TDS-Wert ist möglicherweise jahrelang um Felsen herum geschwappt und hat unter der Erde Mineralien aufgenommen.

Geologie ist also verantwortlich für die Kombination und Menge der enthaltenen Mineralien und bestimmt den Geschmack des Wassers. „Wenn Sodium enthalten ist, ist es salzig. Kalzium macht es leicht süß. Und wenn es Magnesium ist, ist es leicht bitter“, zählt Binder auf.

Wasser in Weingläsern – beim Raumtemperatur

Ich entscheide mich für das Lauretana (£12 die Flasche), ein leicht kohlensäurehaltiges Quellwasser aus Region Piemont im Nordwesten Italiens. Es hat einen TDS von nur 14, also so etwa das Niedrigstmögliche. Ein Kellner gießt mir ein Glas ein. „Wir servieren Wasser immer in Weingläsern. Um ihm Respekt zu zollen“, erklärt Binder, der Wasser nur trinkt, wenn es Raumtemperatur hat. Kühlen, sagt er, töte jeden Geschmack.

Ich bewege einen Schluck Wasser im Mund herum, bevor ich ihn schlucke. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Das Wasser ist so weich und glatt, dass es fast von meiner Zunge gleitet, nicht fließt. Als würde man ein luxuriöses Hermès-Seidenhalstuch trinken. Eine Sekunde später dagegen bleibt mir ein klebriges, metallisches Trockenheitsgefühl im Mund zurück, was offenbar etwas mit dem niedrigen pH-Wert des Wassers zu tun hat. Als ich eine Gabel voll salzigem Krebsfleisch mit einem weiteren Schluck folgen lasse, verschwindet die Trockenheit und das Wasser verstärkt die Cremigkeit des Krebsfleisches. Es funktioniert erstaunlich gut.

Während einer umfassenderen Tasting-Session nach dem Mittagessen führt mich Binder mit einem Glas Vichy Célestins (£9/10,40 Euro) aus dem französischen Kurort Vichy zum anderen Ende des Spektrums. Gleich beim ersten Schluck merke ich den großen TDS-Wert von 3.300 (Leitungswasser in Großbritannien liegt tendenziell unter 400). Ich brauche ein bisschen, um herauszufinden, was gerade passiert. „Sagen Sie mir, dass das nicht total verrückt ist!“, fordert mich Binder fast ein bisschen entrückt auf, während er mich beobachtet. „Das ist mein Lieblingswasser auf der ganzen Welt.“ Es hat eine süße Brackigkeit und eine sanfte, natürliche Sprudeligkeit. Viele Wasser nehmen unter der Erde Kohlensäure auf. So etwas habe ich noch nie geschmeckt; wie ein enthärtetes, seltsam leckeres Meerwasser. Binder empfiehlt es als Ergänzung zu schwereren Gerichten, etwa zu Rindfleisch.

Wasser als Alternative zu alkoholischen Getränken

Binder und La Popote sehen eine Chance in der aktuellen Bewegung weg von Alkohol. Sie bieten Wasser nicht nur als Konkurrenz zu Wein an, sondern auch zu anderen Drinks mit wenig oder ohne Alkohol, zu Sodas und Mocktails, die den Markt schwemmen. „Selbst in Frankreich sagen die Leute, sie wünschen sich mehr nicht-alkoholische Alternativen“, erzählt die 37-jährige Radgon, die Rawlins in einem anderen Restaurant kennengelernt hat. 2019 dann übernahmen sie das La Popote. „Als ich schwanger war, hatte ich das Gefühl, dass das Angebot sehr beschränkt war. Wir müssen mehr darauf eingehen, was die Leute wollen.“

Gerade wenn es eine Frage der Gesundheit ist und nur das zur Folge hat, was die Briten „Zebrastreifen-Trinken“ nennen – nämlich zwischen alkoholischen Drinks immer einen alkoholfreien dazwischenzuschieben –, ist Wasser eine gute Alternative. Die Hydro-Evangelisten jedenfalls sind überzeugt, dass Wasser von hoher Qualität schwer zu schlagen ist, wenn viele andere Alternativen voller Zucker und Zusatzstoffen stecken.

Dabei war auch Binder noch vor Kurzem nicht so überzeugt. Er arbeitete in der Haarpflege-Branche in New York, als er nach seiner Scheidung mit dem Crag-Inn ein schlecht gehendes Pub im Peak District kaufte, das etwa 16 Kilometer vom La Popote entfernt liegt. Obwohl er selbst keinen Alkohol trinkt, überlegte er, es wiederzubeleben und gelegentlich zum Arbeiten nach New York zu fliegen.

Aber als er die vernachlässigte Quelle des Pubs reparieren und testen ließ, erfuhr er, dass er auf einer flüssigen Goldmine mit ungewöhnlich reinem, seidigem Wasser saß. „Ich rief Doran in New York an und sagte: ‚Sie sollten alles verkaufen, was Sie haben, hierher zurückkommen und das Zeug in Flaschen abfüllen“, erzählt Richard Taylor, ein erfahrener Wasserversorgungsingenieur bei der Blair Water Group, der die Arbeiten durchgeführt hatte.

2018 dann gab Binder seinen Job auf, um Crag Spring Water zu gründen. Er verwandelte das Pub in eine improvisierte Abfüllanlage mit einer Wasser-Bar mit Wasserverkostung. Heute produziert ein Team von 15 Mitarbeitern mehr als 12.000 Flaschen Wasser aus der Quelle unter dem Parkplatz des Pubs. Es wird in wiederverwendbare Glasflaschen verkauft, die das Unternehmen bei Neulieferung wieder mitnimmt. La Popote war eins der ersten Restaurants, die dabei waren. Auch zu den Kunden gehören das gehobene Restaurant Sketch im Londoner Stadtteil Mayfair sowie der Lebensmittellieferservice Modern Milkman.

Von der Tech- in die Wasser-Branche

Überrascht von dem großen sofortigen Interesse wollte Binder mehr über sein Wasser erfahren. Er hörte von Michael Mascha, einem in Texas lebenden Österreicher, den Binder als den „Wasser-Paten“ beschreibt. In den 1990ern arbeitete Mascha in der Tech-Branche, verlor aber im ersten Dotcom-Crash alles. Etwa zur gleichen Zeit riet ihm sein Herzspezialist, keinen Wein mehr zu trinken. Obwohl er noch einen Keller voller Flaschen hatte, stimmte er widerwillig zu, sich fortan an Wasser zu halten.

Frustriert von der Standardfrage „mit oder ohne Kohlensäure?“ begann er, neue Marken für sich zu entdecken. 2002 gründete er seine Firma FineWaters. Mittlerweile gehören dazu eine Gesellschaft, eine Akademie, eine Konferenz und eine Beratungsabteilung. Sein Buch mit demselben Namen ist ein Ratgeber mit hundert Premium-Wassersorten von Abatilles in Frankreich bis Zaječická hořká, einem reichhaltigen tschechischen Wasser, das seit dem 16. Jahrhundert wegen seiner angeblichen gesundheitsfördernden Wirkung geschätzt wird.

Mascha bietet einen Online-Kurs für andere Wasser-Liebhaber an und hat bereits mehr als 100 Sommeliers zertifiziert, darunter auch Binder. Er ist überzeugt, dass das Thema gerade richtig in Fahrt kommt. „Endlich sehen wir Wasser nicht mehr nur als Mittel zur Flüssigkeitszufuhr, sondern als Erlebnis.“

Dabei ist er nicht der Einzige, der eine gewisse Dynamik am oberen Ende des Marktes beobachtet. „Was sich verändert hat, ist die Art unserer Kunden“, beobachtet Michael Tanousis, der 2007 die britische Online-Wasser-Boutique „Aqua Amore“ gründete, die in den vergangenen Jahren eine steigende Nachfrage beobachtet. „Die Leute suchen nach speziellen Dingen, nicht nur ‚Wasser in der Flasche‘. Das kann ‚natriumarm‘ oder ‚mit hohem Mineralgehalt‘ sein oder eine bestimmte Herkunft.“

Aber ist Flaschenwasser nicht ökologisch eine Katastrophe? Mascha räumt die Folgen der Branche ein, sagt aber, der Großteil dessen, was Leute kaufen, sei sowieso verarbeitet. „Es ist praktisch Leitungswasser, das in eine Fabrik geleitet wird und dann fahren Leute zum Supermarkt und kaufen Plastikflaschen und bringen sie heim: Es ist total dumm“, kritisiert er. Wenn nicht „natürlich“, „Quell-“ oder „Mineral“- auf der Flasche steht, handelt es sich wahrscheinlich um abgefülltes Leitungswasser. Mascha betrachtet Premium-Wasser-Flaschen nicht als Alternative zum Leitungswasser, das er ebenfalls trinkt, sondern zu Wein oder anderen gelegentlichen Getränken. „Wir sprechen hier über Wassersorten, die einzigartig sind, die eine Terroir haben und es verdienen, in Flaschen gefüllt zu werden.“

Wachsende Gruppe von Wasser-Sommeliers

Binder fordert, dass mehr Wasserhersteller Pfandflaschen einsetzen. Glasflaschen können zwar recycelt werden, werden es jedoch oft nicht. Dadurch kommt noch mehr zu der enormen Menge an Energie hinzu, die sowieso schon für die Herstellung von Wasserflaschen und ihren Transport verschwendet wird.

Rawlins mag sich wie ein Pionier fühlen, aber Wasserkarten sind nichts komplett Neues. Laut Mascha haben ein Dutzend Restaurants in den USA eine. In Großbritannien machte das renommierte Claridge’s Restaurant in London 2007 einen Versuch, der sich aber nicht durchsetzte.

Eine wachsende Gruppe von Wasser-Sommeliers und Wasserenthusiasten glaubt, dass die Verbraucher mittlerweile bereit sind, nachdem Wasser jahrelang nur als Grundnahrungsmittel gedient hat. „In Italien oder Frankreich haben die Menschen viel mehr Verständnis dafür. Aber hier geht es den Leuten ab“, sagt der frühere Umweltwissenschaftler Milin Patel, der heute Trinkwasserexperte im Südwesten Londons ist. „Ich glaube auch Peckham Spring hat uns keinen Gefallen getan“, fügt er mit einer Anspielung auf eine 1992 gesendete Folge der BBC-Sitcom „Only Fools and Horses“ hinzu, in der der Hauptcharakter in seiner Wohnung betrügerisch Leitungswasser in Flaschen abfüllt.

Patel veranstaltet auch Wasser-Verkostungen an Schulen und in Unternehmen. „Man sieht es in ihren Augen: Sie denken: Oh wow, so habe ich Wasser noch nie betrachtet.“ Er hofft, dass ein wachsendes Bewusstsein auch eine neue Achtung für alle Wassernutzungen und Wasserquellen mit sich bringt.

Das wachsende Bewusstsein hat auch Wasserhersteller inspiriert. In wenigen Monaten beginnt Murry Diplock, das Quellwasser zu verkaufen, das von einem Kalkstein-Grundwasserleiter im Test Valley in der südenglischen Grafschaft Hampshire aus seine Kressefarm bewässert. Diplock und seine Familie haben das Wasser schon immer selbst getrunken, nachdem sie es in alte Milchflaschen abgefüllt hatten. Jetzt hat er in eine kleine Abfüllanlage investiert und eine Marke geschaffen: Chorq.

Wasser in sektartigen Flaschen mit knallenden Korken

Diplock verwendet nicht nur Standardglasflaschen, sondern möchte mit dem kohlensäurehaltigen Chorq auf den alkoholfreien Markt vorstoßen, mit sektartigen Flaschen mit knallenden Korken. „Wir wollen anfangen, Seminare und Verkostungen zu veranstalten, damit die Leute besser verstehen, was wir tun und warum“, erklärte er. „Wasser ist etwas, das alle interessiert, und wir hoffen, dass es wirklich gerade richtig durchstartet.“

In Cheshire hat Rawlins vor, neben speziellen Käse- oder Steak-Abenden, die er bereits anbietet, auch einen Wasser-Abend ins Programm aufzunehmen. Er besteht darauf, dass die Speisekarte kein Gimmick ist. „Vielleicht nehmen wir ein Wasser runter oder ein anderes auf, aber die Karte bleibt bestehen.”

Bevor ich das La Popote verlasse, probiere ich noch das Vidago für 22 Euro, das in limitierter Auflage in mattierten Flaschen im Lalique-Stil verkauft wird. Mit einem TDS-Wert von fast 3.000 ist es fast so reichhaltig wie Vichy Célestins, schmeckt jedoch etwas weniger salzig. Ich probiere einen weiteren Schluck mit Parmaschinken; das Salz im Wasser scheint zu verschwinden, als die Geschmäcker sich in meinem Mund vermischen.

Ob sich nun Binders ganzer Enthusiasmus auf mich übertragen hat oder nicht, eine interessante Erfahrung war es allemal – definitiv bewusster, als ich sonst an Essen und Trinken herangehe, wenn ich es herunterschlinge wie ein hungriger Pelikan. „Ich habe mein Leben lang damit verbracht, mit Essen und Wasser herumzuprobieren. Trotzdem finde ich es immer noch einfach unglaublich “, erklärt Binder. Er schenkt ein weiteres Glas Wasser ein und reicht es mir: „Warten Sie, bis Sie das probiert haben… .”

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