1995: Der Vertrag von Dayton verschafft Bosnien vereinen vielmehr verkommen Frieden

Ganz zum Schluss, nach der feierlichen Unterzeichnung im Élysée-Palast, gaben sich in Paris alle die Hand. Einen Moment länger als die anderen dauerte der Handschlag zwischen dem serbischen Präsidenten Slobodan Milošević und dem bosnischen Staatschef Alija Izetbegović, der sogar ein wenig lächelte, spontan und entspannt, wie es schien.

Dabei war es Izetbegović, der in den Verhandlungen bis zuletzt gezögert hatte, dem Abkommen zuzustimmen. „Es ist kein gerechter Friede“, hatte das 70-jährige Oberhaupt eines zerrissenen Staates am Ende seufzend gesagt. Und dann, nach einer langen Pause: „Aber mein Volk braucht Frieden.“ Die erlösenden letzten Worte hielten noch einmal die Spannung fest, mit der die internationale Diplomatie in den vier Jahren von Tod und Zerstörung zu kämpfen hatte: die zwischen Frieden und Gerechtigkeit.

Als im Sommer 1991 Panzer der jugoslawischen Volksarmee durch das abtrünnige Slowenien rollten, hatte sich die Europäische Gemeinschaft für den Konflikt zuständig gefühlt. Früh wurde klar, dass sie sich übernommen hatte. Als wenig später auch in Kroatien geschossen wurde, kamen als Vermittler die Vereinten Nationen hinzu. Sie brachten eine Feuerpause in Kroatien zustande. Nicht verhindern konnten sie aber, dass wenig später auch in Bosnien gekämpft wurde.

EU- und UN-Diplomaten, an der Spitze der Brite David Owen und der Amerikaner Cyrus Vance, verhandelten. Sie erreichten Waffenstillstände, die rasch gebrochen wurden, 35 an der Zahl, schickten eine Friedenstruppe und entwarfen Friedenspläne. Der Krieg ging weiter. Erst nach einer langen Schrecksekunde begriff die Weltöffentlichkeit, was da vorging: Im Streit, welche Volksgruppe einen wie großen Teil des untergehenden Vielvölkerstaates Jugoslawien bekommen sollte, war die Zivilbevölkerung das eigentliche Ziel. Serbische Truppen vertrieben systematisch muslimische Bosniaken, ebenso Kroaten aus den Städten und Dörfern, die sie für sich beanspruchten. Bilder von Vertreibungslagern gingen um die Welt, von Scharfschützen, die im belagerten Sarajevo auf Passanten zielten, Berichte über schlimme Gräuel, Erinnerungen an Nazi-Deutschland.

Im Sommer 1992 brandete im globalen Westen Empörung auf, besonders in den USA: Wie konnten die zahnlosen Mächte EU und UNO im brennenden Bosnien den „ehrlichen Makler“ geben und nach Kompromissen zwischen Tätern und Opfern suchen? Der US-Präsident, der Republikaner George Bush, hielt sich vornehm he-raus. Sollte so die versprochene „neue Weltordnung“ aussehen, keine drei Jahre nach dem Fall der Mauer und kein Jahr nach dem Ende der Sowjetunion?

Dayton: Ein Plan für „Falken“ und „Tauben“

Es war ein Wahljahr, der demokratische Kandidat Bill Clinton griff die Stimmung auf. Nach seinem Sieg und dem Amtsantritt im Januar 1993 waren es US-Diplomaten, die den neuen Präsidenten zum Handeln trieben. Ihnen, auch dem engagierten Botschafter in Bonn, Richard Holbrooke, war der Zielkonflikt zwischen Frieden und Gerechtigkeit bewusst: Für einen Friedensschluss musste es am Ende die Zustimmung aller drei Seiten geben – der Bosniaken, die ihre Republik zusammenhalten wollten, aber nur etwa 44 Prozent der Bevölkerung ausmachten, der Kroaten (17 Prozent) und der Serben (33 Prozent), die beide hinausstrebten.

Das alte Establishment um den Republikaner Henry Kissinger trat für Nichteinmischung ein. Die „liberalen Falken“ in den Reihen der Demokraten um die spätere Außenministerin Madeleine Albright riefen dagegen nach einer Intervention der NATO gegen die serbische Kriegspartei. Clintons Sicherheitsberater Tony Lake ersann einen Plan, beide Positionen zu versöhnen; es wurde für lange Zeit der letzte, der „Falken“ und „Tauben“ zufriedenstellte.

Zunächst musste dem Grundgesetz aller Friedensdiplomatie Genüge getan werden: Ein Krieg endet dann, wenn mit kriegerischen Mitteln keine Seite ihre Ziele mehr erreichen kann. Militärisch herrschte anfangs ein krasses Ungleichgewicht. Die serbische Seite hatte die gut gerüstete Armee Jugoslawiens geerbt. Bosniaken und, nicht ganz so sehr, Kroaten litten dagegen unter einem Waffenembargo, das der UN-Sicherheitsrat zu Kriegsbeginn gegen alle Parteien verhängt hatte.

Heimlich, des Nachts und über gesperrte Flughäfen, schickte die U.S. Air Force Kriegsmaterial an bosnische und kroatische Truppen – unter Bruch des Embargos und eines Flugverbots, aber mit stillschweigender Billigung des zuständigen UN-Generalsekretärs Kofi Annan. Pa-rallel zur Aufrüstung entstand unter US-Ägide ein neuer Friedensplan für Bosnien. Die Serben, die nach den „ethnischen Säuberungen“ von 1992 gut 70 Prozent des bosnischen Territoriums hielten, sollten sich auf 49 Prozent zurückziehen, Bosniaken und Kroaten 51 Prozent zufallen. Der gemeinsame Staat sollte wenigstens als entleerte Hülle bestehen bleiben.

Mit unsichtbarer Hand

Serbiens Präsident Milošević stimmte dem Plan zu und überwarf sich dafür mit seinen serbischen Volksgenossen in Bosnien. Ohne Unterstützung aus Belgrad fehlte deren Anführern, dem Präsidenten Radovan Karadžić und dem Armeechef Ratko Mladić, der Rückhalt. Wie von unsichtbarer Hand geführt, passte sich Bosniens ethnische Landkarte vom Spätherbst 1994 an dem Friedensplan an: Bosniaken und vor allem Kroaten rückten vor, die Serben zogen sich zurück. Die kroatische Armee vertrieb weitgehend kampflos an die 200.000 Serben aus Kroatien. Am Ende hatten Ratko Mladićs Panzer nicht einmal mehr genug Sprit zum Flüchten. Den letzten, nur noch kläglichen Widerstand der bosnischen Serben brach im September 1995 die kroatische Armee mithilfe von NATO-Luftschlägen.

Der Weg war frei für den Friedensschluss. Richard Holbrooke verhängte über die drei Präsidenten – den Serben Milošević, den Kroaten Franjo Tudjman, den Bosniaken Izetbegović – eine spartanische Klausur auf dem Luftwaffenstützpunkt in Dayton (Ohio). Briten, Franzosen, Deutsche und Russen durften pro forma mitverhandeln. Nach drei Wochen dramatischen Feil-schens war die Arbeit getan. Frankreichs Präsident Jacques Chirac setzte durch, das finale Abkommen in Paris zu unterzeichnen. Ein Symbol nur. Aber eines, das in die Irre führte: Der Friede war allein das Werk der Amerikaner.

Seit 30 Jahren nun schweigen die Waffen. Ein Muster wurde der Friede von Dayton nicht – und wo doch, ein falsches. Haften blieb von diesem Friedensschluss, dass es die Militärintervention gewesen wäre, von der die Serben zur Vernunft gebracht wurden. Ein Mythos, denn entscheidend war am Ende Miloševićs Hoffnung, sein Serbien von Sanktionen zu befreien und in die Gemeinschaft der europäischen Nationen zu führen. Zum Zweiten ging die Zuständigkeit für einen Frieden faktisch von der UNO an die USA über, was dreieinhalb Jahre später mit dem Kosovo-Krieg zur Doktrin wurde und ein Jahrzehnt des Unilateralismus eröffnete. Dabei war in Jugoslawien die Gelegenheit für ein völkerrechtskonformes Vorgehen günstig wie nie: Russland unter seinem Präsidenten Boris Jelzin hofierte Clinton, wo es nur ging, und China hielt sich noch ganz heraus.

Wenn sie es gewollt hätten, wären die Amerikaner bei der UNO in New York auf keinerlei Widerstand gestoßen. Von nun an galt es als schlau, als Hegemonialmacht nicht eigene Truppen ins Feld zu schicken, sondern lokale Armeen für sich kämpfen zu lassen – also die „unsichtbare Hand“ zu sein, die „on the ground“ die gewünschten Verhältnisse herstellt. Schon in Bosnien erwies sich diese Taktik als fatal. Als sie die neue Landkarte der Friedensordnung vom Papier in die Wirklichkeit übertragen sollte, nutzte die bosnisch-serbische Armee die Chance, den Plan ein wenig zu korrigieren. Sie tat es so, wie es ihr noch möglich war: Sie ermordete 8.400 entwaffnete Bosniaken in Srebrenica. Das schlimmste Massaker der Jugoslawien-Kriege war auch ein Betriebsunfall der Friedensschaffung. Nicht einmal der kunstvolle Kompromiss zwischen Falken und Tauben, den Holbrooke und seine Kollegen schafften, hielt nach.

Frieden und Gerechtigkeit erscheinen seit den kriegerischen 1990er Jahren in allen Konflikten wie ein unversöhnlicher Gegensatz: Jeder Frieden ist immer faul, Gerechtigkeit muss stets auf dem Schlachtfeld siegen. Dass in Bosnien den Kindern und Frauen, den vielen Flüchtlingen und gemischten Familien ein ungerechter Frieden immer noch eher gerecht wurde als ein noch so gerechter Krieg, hat man in 30 brüchigen Friedensjahren jedenfalls nie wieder gehört. Auch ein Lächeln, wie das des Alija Izetbegović, sah man nach dem Handschlag von Paris nie wieder.

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