1958 Bruno Apitz‘ Roman oberhalb dies KZ Buchenwald: Das Kind, wie es im Buche steht

Er hat es geschafft. Endlich. Erfolg! Was hat er erlitten, was nicht alles probiert. Gleichaltrig dem 20. Jahrhundert, in das er geworfen, ist der Arbeiterschriftsteller Bruno Apitz 58 Jahre alt, als sein erster Roman erscheint, Nackt unter Wölfen. Das Buch wird ein Hit. Apitz verdient viel Geld. Die DDR ehrt ihn mit Preisen. Als Autodidakt sieht er sich plötzlich gereiht unter die ganz Großen. Seghers, Strittmatter …

Bruno Apitzstammt aus Leipzig. Sein Vater ist Wachstuchdrucker, die Eltern betreiben einen Laden. Der 14-Jährige beginnt eine Lehre als Stempelschneider. Bricht ab, wird Laufbursche, verdingt sich – ein Wort, man möchte meinen, Karl Marx habe es erfunden: verdingt sich – als Hilfskraft. Und schließt, kaum ist sie gebildet, sich der roten Liebknecht-Jugend an. Beteiligt sich an einem Streik. Wird verhaftet. Sitzt im Knast. Er liest dort Bücher, Bücher. Wird anschließend Buchhändler. Aber immer drängt es den jungen Mann, selbst künstlerisch tätig zu werden. Er beginnt zu schreiben. Nimmt Schauspielunterricht. Arbeitet als Eleve an einer Leipziger Bühne. Geht auch tatsächlich an ein Theater, nach Harburg an der Elbe. „Das war mein einziges Engagement.“ In der Folge findet Apitz über Jahre, wie Millionen Deutsche, keine Arbeit. Er bekommt Stütze. „Zusammen mit meiner Mutter, mit der ich lebte, hatte ich wöchentlich 12 Mark.“

„Rückfälliger politischer Häftling“

Als die Nazis die Macht erlangen, wird Apitz, der seit 1927 KPD-Mitglied ist, sofort „in Schutzhaft genommen“, also ohne richterlichen Beschluss in „wilden“ KZs des frühen Terrors über Wochen gequält. Dann, kaum ein Jahr auf freiem Fuß, wird er erneut verhaftet. Diesmal verurteilt man ihn „rechtskräftig“ zu 34 Monaten Zuchthaus. Danach wird er aber nicht entlassen, sondern in das Konzentrationslager Buchenwald überführt als „rückfälliger politischer Häftling“.

Im November 1937, als er diesen „Vorhof zu einem Reich des Todes und der Auflösung“ betritt, als man ihm seine Habe nimmt, er kahlgeschoren und fotografiert wird, besteht das Lager nur erst aus viel Schlamm, wenigen Holzbaracken und einigen Villen für die SS-Offiziere. Apitz muss mitbauen am KZ. Acht Jahre lang ist er nichts als Nummer 2417. In dieser Zeit sterben mehr als 56.000 Menschen im Lager. Sie werden umgebracht, sie verhungern, erfrieren, verrecken an Krankheiten. Apitz‘ vielseitige künstlerische Begabung hält ihn aufrecht und bringt ihm auch real Erleichterungen. Er schnitzt Holzplastiken im Auftrag der SS, schreibt Sketche für „Bunte Abende“, spielt etwas auf der Geige – nützlich dem Überleben.

Das Lagertor öffnet sich ihm und seinen Mithäftlingen am 11. April 1945. „Ich hab‘s nicht geglaubt. Auf einmal, wir sind frei. Da hat man doch gar keine Vorstellung.“ Bruno Apitz, den man wieder bei seinem Namen nennt und nicht länger als Nummer ruft, der 34-jährig in Haft kam, bei Verhören durch die Gestapo den Großteil seiner Zähne verlor, ist jetzt 45 Jahre alt. Er verlässt die Hölle. Wohin? In ein endlich selbst frei bestimmtes Leben? Noch Monate trägt er Sträflingskleidung. „Ich musste mich erst allmählich in den Zustand der Freiheit hineingewöhnen.“

Das Kind sollte nach Auschwitz

Das Lager verließ auch, als das Tor nun offenstand, der vierjährige Stefan Jerzy Zweig an der Hand seines Vaters Zacharias. In KZ-Haft kamen beide ein Dreivierteljahr zuvor aus dem Krakauer Ghetto, weil sie Juden waren. Vom Ettersberg sollte das Kind nach Auschwitz ins Gas deportiert werden. Häftlinge, hauptsächlich Kommunisten, denen das Zusammenstellen der Transporte befohlen war, strichen 12 Namen von der Liste, die sie zunächst angelegt hatten, auch den Letzten im Alphabet, „Zweig, St.“. Sie erstellten eine Ersatzliste. Wählten andere Zwölf, um auf Zweihundert zu kommen, die SS hatte die Zahl vorgegeben. KZ-Gefangene versteckten in der Folge den kleinen Stefan, der Vater war stets in der Nähe. Es hätte sie alle und dem Kind das Leben gekostet, wäre die Sache aufgeflogen.

Eilt!“ steht vermerkt auf der Druckgenehmigungsakte. Und wirklich, das Buch wird von einer Zensur, die es laut Verfassung nicht gibt in der DDR, genehmigt im Eiltempo. Antifaschismus ist Markenkern der Einheitspartei. Heiliger Gral. Es ist den Genossen ernst damit. Pünktlich zum V. SED-Parteitag erscheint Nackt unter Wölfen.

Darin berichtet Bruno Apitz vom KZ Buchenwald frei – im doppelten Sinn – nach eigenem Erleben. Und erzählt, und das macht das Herz der Geschichte, wie inmitten von Tod, Folter, Gemeinheit, Schuld, Verstrickung, Hass eine reine Unschuld in Gestalt des kleinen polnisch-jüdischen Stefan Cyliak gerettet und am Ende hinausgetragen wird aus Finsternis und Qual auf den Schultern aufrechter Männer in eine lichtere Zukunft. So gehen Bestseller.

Noch das Mädchen, das in Steven Spielbergs Welterfolg Schindlers Liste im roten Kleid durch die ansonsten schwarzweiße Schreckenswelt des Krakauer Ghettos irren wird, kann als Reminiszenz an Apitz‘ „Buchenwaldkind“ gesehen werden. Dem Autor Apitz dient, was Stefan J. Zweig widerfuhr, als Vorlage. Er ist dem Kleinen im Lager selbst nie begegnet. Er lässt seinen Roman-Stefan auch ohne Vater sein. Das ist legitim und dramaturgisch richtig. Es stärkt die Handlung um ein Vielfaches. „Drei Jahre arbeitete ich daran.“

Nackt unter Wölfen ist das wohl auflagenstärkste belletristische Werk, das in der DDR entstand. Es wird zuhause fast zwei, im Ausland an die drei Millionen Mal verkauft; und man darf davon ausgehen, dass zumindest in der DDR fast jedes Exemplar mehrere Leser fand. „Nach dem Roman“, notiert Apitz später, „musste ich noch ein Hör- und ein Fernsehspiel schreiben und zuletzt einen Film mit gleichem Titel wie der Roman.“

Dramaturg in Babelsberg

Dabei würde er so gern etwas Heiteres veröffentlichen. Seit 1952 schon bietet er der staatlichen Filmproduktion DEFA ununterbrochen Komödienstoffe an. Ideenskizze zu einem fröhlichen Film: Der Wagen rollt – Ist die Mark ein Fünfziger? – So einer ist Habenack – Dieb im eigenen Haus – Wie sag ich’s meinem Mann? Eine Filmkomödie. Er schreibt Exposees, Drehbücher, wird gar als Dramaturg in Babelsberg beschäftigt, um so Dramaturgie zu lernen – was grandios scheitert. Aber nicht eine seiner Ideen wird realisiert. Selbst die erste Skizze zur später legendären KZ-Erzählung wird von der DEFA abgelehnt.

Dafür versucht Apitz sich zu rächen, als er prominent geworden ist. Er fordert 1962 für seine Arbeit am Kino-Drehbuch 200.000 Mark Honorar. Unbezahlbar, sagt die DEFA. Apitz mauert, droht, den Dreh platzen zu lassen, der bereits läuft. Ein Gespräch mit dem Kulturminister bringt schließlich die Wendung. Genosse Apitz ist nun zufrieden mit 75.000.

Im Gedenken mit sich allein

Der Kinofilm Nackt unter Wölfen Regie führt der 30-jährige Frank Beyer – wird, wie das Buch zuvor, ein sensationeller Erfolg. Stefan J. Zweig hört 1964 erstmals davon. DDR-Journalisten spüren den jungen Mann, der inzwischen Israeli ist, in Lyon auf, wo er studiert. Publizieren über ihn. Es wird der Eindruck erweckt, Apitz’ Roman erzähle seine Geschichte eins zu eins. Das gibt dem Stoff abermals Auftrieb. Denn nun liegt der „Beweis“ vor, dass nicht Kommunisten sich eine Story ausgedacht haben, wie sie ihnen gut in den Kram passt. Sondern alles im Roman Geschilderte „wahr“ ist. Bruno Apitz spielt das nützliche Spiel konsequent mit. Etwa, als der Film in Weimar läuft und „sein“ Stefan im Saal sitzt, auch Presse anwesend ist, weist er auf ihn und erklärt in einer einführenden Rede, dieser junge Mann werde nun seine Lager-Kindheit nacherleben und sehen, wie am Ende Häftlinge ihn „durch das aufgesprengte Tor in die Freiheit hinaustragen“. Wohin? In ein selbst frei gestaltetes Leben?

Jerzy wird auf Einladung der DDR Kamerastudent an der Babelsberger Filmhochschule. 1965 legt er eine Arbeit vor, Erinnerung im Herzen. Ein Buchenwaldfilm, neun Minuten lang, den der 24-Jährige dem Genossen Robert Siewert widmet, einem seiner Retter, der in diesem Film auch präsent ist. Einsam streift der ältere Herr durch die riesenhaft angelegte Gedenkstätte, wo Erinnern und Mahnen in Stein gehauen stehen. Danach übers ehemalige KZ-Gelände, allein. Plötzlich strömen viele, sehr viele Menschen durchs Tor ins Lager, es findet eine Gedenkveranstaltung statt. Den Film, der keinen Originalton hat, trägt ein klassisches, trauerndes Musikstück. So lang das Stück ist, so lang ist der Film. Es regnet. Man sieht Redner reden. Feuerschalen brennen. Allmählich, weil allen, die sprechen oder singen, der Ton abgedreht ist, scheidet sich vom Gefühl das Offizielle.

Ja, das wird veranstaltet, das geschieht. Im Herzen aber die Erinnerung, die vielleicht die Wahrheit ist, bleibt davon unberührt. Und jeder, der hier einst Häftling war, muss sie allein tragen. Zweig, der in der DDR nie, ohne sich gegen seine Förderer zu stellen, aus der Rolle des Buchenwaldkinds entlassen worden wäre und sich von Apitz‘ Zuschreibungen kaum je hätte befreien können, übersiedelt 1972 nach Wien.

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