1913: In „Der Heizer“ verwirft Franz Kafka demütiges soziales Verhalten

In Franz Kafkas (1883 – 1924) kurz vor dem Ersten Weltkrieg publizierten Erzählung Der Heizer geht es um den 16-jährigen Karl Rossmann. Er hat ein Dienstmädchen geschwängert. Seine Eltern, die Alimentenzahlungen vermeiden und den Sohn bestrafen wollen, schicken ihn mit einem drittklassigen Schiffsticket zu seinem Onkel, einem wohlhabenden Unternehmer und einflussreichen Senator in New York. Während des Ausstiegs der Passagiere eilt Karl in seine Kabine zurück, weil er den Regenschirm vergessen hat. Er verirrt sich ins Unterdeck und trifft den Heizer. Da er gehört hat, dass irische Arbeiter gewalttätig und Slowaken Diebe seien, ist er erleichtert, als sich der kräftige Mann als Deutscher erweist.

Der Heizer erzählt, dass er auf dem Schiff nicht mehr arbeiten wolle, weil ihn sein Vorgesetzter, der Rumäne Schubal, ständig drangsaliert habe. In Karl entflammt ein starkes Gerechtigkeitsgefühl, wie es Jugendliche schnell erfassen kann. Ihn irritiert, dass sich der Heizer nicht zur Wehr setzt. Karl beschwört ihn, bei der Schiffsleitung sein Recht einzufordern. Da der Heizer noch seinen Lohn holen muss, lässt er sich davon überzeugen. Auf dem Weg zur Offiziersmesse durchqueren sie die Küchenräume, wo der Heizer von putzenden Frauen in „schmutzigen Schürzen“ herzlich begrüßt wird. Zur Messe, in der Schiffsoffiziere, Vertreter der Einwanderungsbehörde und andere Herren versammelt sind, bekommen sie nur Zutritt, weil Karl das energisch erzwingt. Da der Heizer sein Anliegen zu schüchtern vorbringt, übernimmt er auch das. Unterdessen tritt Schubal mit einem Stoß Akten ein, um zu beweisen, dass der Heizer ein Querulant ist; vor der Tür wartendes Personal würde dies bezeugen.

Karl verdoppelt seinen Eifer, wobei er seine Identität enthüllt. Nun stellt sich heraus, dass einer der versammelten Herren der ihn bereits suchende Onkel ist. Das überraschende Familientreffen erzeugt heftige Gratulationen, die – als die zu Zeuginnen umgepolten Küchenfrauen hereinstürmen – in allgemeinen Freudentaumel münden. Auch der Heizer wird ein wenig davon erfasst. Zugleich resigniert er. Künftig werden auf diesem deutschen Schiff wohl nur noch Rumänen arbeiten. Seine Angelegenheit geht unter, aber Karl will so schnell nicht aufgeben: „Du musst dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben doch die Leute keine Ahnung von der Wahrheit.“ Er selbst fürchte, ihm nicht mehr helfen zu können. „Und nun weinte Karl, während er die Hand des Heizers küßte. Er nahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wangen wie einen Schatz, auf den man verzichten muss. Da war aber auch schon der Onkel Senator an seiner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem leichtesten Zwange, fort“, heißt es bei Kafka.

Der Heizer hatte einen der härtesten Jobs bei der Überquerung des Atlantiks

Foto: Imago Images

Die Erzählung hat an Aktualität nichts eingebüßt. Sie verdeutlicht, wie verzahnt die Wirkungsweisen von Klassenhierarchien und Rassismus sind. Die bereits damals globalisierten Oberklassen sind einander eng verbunden, während Einheit und Organisation des multinationalen Proletariats nicht zustande kommen. Anhand der Küchenfrauen, die den Heizer als Freund schätzen, sich aber von Schubal schnell gegen ihn instrumentalisieren lassen, zeigt Kafka, wie leicht es zur Entsolidarisierung kommt. Mit der Namensgebung „Schubal“ greift er in bitterster Ironie auf eine subtile Darstellung von Rassismus zurück: Der Name weist auf einen Rumäniendeutschen, den der Heizer aber als Rumänen wahrnimmt. Die bedeutendste Pointe ist gesetzt, indem die drangsalierte Hauptfigur selbst einer hegemonialen ethnischen Gruppe – den Deutschen – angehört.

Der blitzartige Umschwung der Handlung vom Problem des Heizers hin zur Familienzusammenführung verweist auf einen massenkulturellen Aspekt, der die Klassenhierarchie erhalten lässt. Die Botschaft: Werden die Unterklassen mit Elementen des Lebens der Oberklassen gefüttert, haben sie bereits den Eindruck der Teilhabe am Allgemeinmenschlichen. Das funktionierte schon zu Kafkas Zeiten im Kino, erst recht in der Trivialliteratur, die – wie der italienische Marxist Antonio Gramsci 1918 schrieb – auch über Fortsetzungsromane in Zeitungen unters Volk gebracht wurde.

Als Jurist in der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung (AUV) erlebte der zu viel Empathie neigende Kafka mit Verwunderung und zunehmender Verzweiflung, dass von Unfällen betroffene Arbeiter ihre Rechte oft nicht nachdrücklich einforderten. Ohnehin wurden ihnen nur Almosen zuteil, weil die 1885 gegründete AUV wegen des extrem niedrigen Lohnniveaus Beiträge von den Unternehmen einzog, die diese durch Datenfälschung niedrig hielten. In einem seiner durch den Germanisten Klaus Hermsdorf 1984 veröffentlichten Berichte an die Direktion beklagte Kafka, dass in der AUV „die Stimme der Arbeiter völlig fehlt“. Die demütige Ohnmacht der Unterschicht bereitete ihm seelische Qualen. 1913 notierte er in sein Tagebuch, dass er „geschluchzt“ habe, als er von einer Frau las, die ihr „fast dreiviertel Jahre altes Kind wegen Not und Hunger erwürgte“.

Aus solchen Eindrücken lässt sich eine Verbindung zum weinenden Karl Rossmann herstellen, der die Hand des zur eigenen Verteidigung unfähigen Heizers küsst. Auch der Erzähler in Kafkas Auf der Galerie weint, als ihm die brutale Zurichtung bewusst wird, die vor dem mit Pomp und Gloria inszenierten Auftritt der noch kindlichen Zirkusreiterin stattfand.

Rührende Milena

Zu Kafkas Aufgaben gehörte auch die Inspektion von Betrieben, um den Umgang mit Arbeitsschutzvorschriften zu kontrollieren. In der Erzählung Neue Lampen von 1917 fordert ein Bergarbeiter – beherzter als der Heizer – in seiner Fürsprache für die Kollegen von der Unternehmensleitung bessere Arbeitslampen. Man lobt ihn, verspricht, den Vorschlag gründlich zu prüfen, verhöhnt ihn aber letztlich: Er solle seinen Leuten mitteilen: „Solange wir nicht aus eurem Stollen einen Salon gemacht haben, werden wir hier nicht ruhen, und wenn ihr nicht schließlich in Lackstiefeln umkommt, dann überhaupt nicht. Und damit schön empfohlen!“

Der Heizer war das erste ins Tschechische übersetzte Werk Kafkas. Dass die erst 23-jährige und bereits sehr erfolgreiche Journalistin Milena Jesenská ihn 1919 dazu um die Erlaubnis bat, war kein Zufall. 1918 war das Habsburger „Vielvölkergefängnis“ aufgelöst worden. Unter den neuen Staaten befand sich die Tschechoslowakische Republik, in der sich die lange von „deutschen“ Österreichern unterdrückte Bevölkerungsmehrheit der Tschechen endlich repräsentiert sah. Minderheiten waren gleiche demokratische Rechte zugesichert. Dass sich dies in der Praxis gegenüber Slowaken, Deutschen und Juden, die weiter unter antisemitischer Gewalt litten, nicht ohne Weiteres durchsetzte, verwies auf das gewaltige, von der K.-u.-k.-Monarchie hinterlassene rassistische Erbe.

Und es war sicher kein Zufall, dass gerade Milena Jesenská der im Heizer dargestellte absurde Rassismus als Hemmnis für ein demokratisches Einvernehmen ins Auge fiel. Stammte sie doch aus einer tschechischen Familie, deren Vorfahren am protestantischen Widerstand gegen die Habsburger beteiligt waren und sich stark für das republikanische Ideal einsetzten. Jedoch hatte sich der Vater gegen ihre Heirat mit dem jüdischen Publizisten Ernst Polak gestemmt. Und dann verliebte sie sich erneut in einen Juden, den Versicherungsbeamten und Freizeitautoren Kafka.

Dessen Selbstvertrauen in sein Werk war gering; er wollte Milena beweisen, dass es sich mit dem Heizer um eine „abgründig schlechte Geschichte“ handle. Ihm bleibe „unbegreiflich“, so Kafka, dass sie die „große Mühe“ der Übersetzung auf sich genommen habe. Es sei „tief rührend“, mit welcher Treue sie es getan habe, „einer Treue, deren Möglichkeit und schöne natürliche Berechtigung, mit der Sie sie üben, ich in der tschechischen Sprache nicht vermutet habe. So nahe deutsch und tschechisch?“ Kafka verwies auf sein „tschechisches Sprachgefühl“, da er mit dieser Sprache von klein auf vertraut war und einen Teil seiner Arbeit in der AUV auf Tschechisch zu erledigen hatte. 1918 zählte er zu den wenigen „Deutschen“, die nicht aus der AUV entlassen wurden, da er nie deutsch-nationale Haltungen gezeigt hatte.

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