Altersvorsorge: Amerikas Renten-Zeitbombe – WELT
Vor wenigen Wochen brannten auf den Straßen von Bordeaux wieder Autos, Geschäfte wurden geplündert. Anlass für die Proteste: Die Franzosen sollen statt bis 62 künftig bis zum Alter von 64 Jahren arbeiten. Um das zu verhindern, gehen Demonstranten bis ans Äußerste – zum Unverständnis der deutschen Nachbarn, wo Arbeitnehmer längst länger in Lohn und Brot bleiben müssen.
Doch ausgerechnet aus den USA, dem Land der Tapferen und Fleißigen, ernteten die Franzosen überraschenden Zuspruch. In Amerika befürworten laut einer aktuellen Umfrage rund 39 Prozent der Amerikaner die Ausschreitungen. Und eine knappe Mehrheit kann sich ein Szenario vorstellen, in dem ähnliche Proteste auch in ihrem Land ausbrechen.
Die Vereinigten Staaten laufen Gefahr, das nächste Frankreich zu werden. Denn die Rentenfrage spitzt sich auch dort drastisch zu. Millionen Amerikaner stehen kurz vor ihrem Erwerbsende – und werden feststellen, dass ihre Rücklagen nicht zum Leben reichen.
Ohne politische Antworten lassen sich finanzielle Katastrophen bei den Senioren nicht mehr abwenden. Doch die Lösung, die auf dem Tisch liegt, liefert sozialen Sprengstoff: Amerikaner könnten bald bis 70 arbeiten müssen, um das Sozialversicherungssystem zu entlasten. Dabei liegt das reguläre Renteneintrittsalter schon jetzt bei 67 Jahren.
Wie groß die Kluft zwischen dem Wunsch und der Ruhestandsrealität der Älteren ist, offenbaren jetzt aktuelle Regierungsdaten. Mehr als 40 Prozent der Babyboomer haben kein Rentenkonto. Viele arbeiten für kleinere Unternehmen, die keinen betrieblichen Vorsorgeplan anbieten. Sie sind auf sich allein gestellt. Andere sind selbstständig oder müssen wegen ihres niedrigen Einkommens von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben.
Im Alter verlassen sie sich ausschließlich auf das Sozialversicherungssystem. Und das ist ein Problem: Der durchschnittliche monatliche Scheck für einen pensionierten Arbeitnehmer beträgt etwa 1800 Dollar. Der durchschnittliche Haushalt eines über 65-jährigen Amerikaners gibt aber mehr als 4000 Dollar im Monat aus – für Miete, Lebensmittel, vor allem aber für die Gesundheit.
Eine Million Dollar beiseitelegen
Die ungeklärte Rentenfrage kommt in einer Zeit, in der die Wut der Bevölkerung ohnehin groß ist. Zwar ist die Arbeitslosenquote unter Joe Biden so niedrig wie zuletzt in den 1960er Jahren, doch die Preise für Lebensmittel und Mieten sind in die Höhe geschnellt. Wer heute 45 Jahre alt ist, rechnet laut einer Umfrage der Investmentfirma Schroders damit, zum Zeitpunkt des Renteneintritts rund 1,1 Millionen Dollar zu benötigen. Nicht, um in Saus und Braus zu leben, sondern um halbwegs bequem in den Ruhestand gehen zu können. Das Motto: Nur als Millionär schafft man es sicher über die Grenze zur Altersarmut.
Doch es kann noch schlimmer kommen. Denn die Sozialversicherung, das ohnehin spärlich gefüllte Umlagesystem, auf das 67 Millionen Amerikaner für monatliche Zahlungen angewiesen sind, steht vor massiven Solvenzproblemen. Bis zum Jahr 2033 könnten in der Vergangenheit angesammelte Rücklagen und Überschüsse aufgrund des rasant steigenden Bedarfs aufgebraucht sein. Laut dem „Center for Retirement Research“ am Boston College verfügten öffentliche Rentenpläne schon im vorvergangenen Jahr durchschnittlich nur über 0,75 Dollar für jeden Dollar, den sie Rentnern künftig schulden.
Geld muss her, und so haben sich die Pensionsfonds in den USA längst eine Lizenz zum Zocken ausgestellt. Mehr als 100 Bundesstaaten, Städte oder Countys sollen im vergangenen Geschäftsjahr Kredite aufgenommen und das Geld an den Börsen angelegt haben. Es ist ein Akt der Verzweiflung, aus dem ein großes Risiko erwächst: Kommt es zu Kurseinbrüchen, vermindert sich nicht nur das Vermögen der Rentner. Diese müssten für die Schulden der Fonds auch noch draufzahlen.
Noch deutlicher zeigt sich die Casino-Mentalität der Staatsbeamten bei den Anlageklassen. Im vergangenen Jahr haben 94 Prozent der öffentlich gemanagten Fonds einen Teil der hart verdienten Altersvorsorge in Kryptowährungen oder daran beteiligte Unternehmen investiert. Vergangene Kurseinbrüche? Zunehmende Regulatorik? Egal. Schließlich winken bei Krypto-Investments befreiend hohe Renditen.
Star-Investoren wie Warren Buffett sehen im Bitcoin nicht mehr als ein Roulette-Spiel. Und die Pensionsfonds sitzen mit am Tisch. Von der Wall Street werden die öffentlichen Rentenversicherungen wohl nicht grundlos als die dümmsten institutionellen Anleger der Welt angesehen.
Das Schlimmste steht noch bevor
Die Politik wird nicht darum herumkommen, eine Lösung für die soziale Zeitbombe zu finden. Schon jetzt gilt jeder vierte Rentner in den USA als arm. Es ist allerdings eine heikle Mission, die Bürger mit notwendigen Maßnahmen nicht auf die Barrikaden zu treiben. Demokraten haben zuletzt eine Ausweitung der Sozialleistungen vorgeschlagen – finanziert durch deutlich höhere Steuern und Beiträge. Doch die gelten als unbeliebt, der politische Preis wäre hoch.
Und fraglich bleibt auch, ob das überhaupt ausreichen würde. Das „Republican Study Committee“, eine Gruppe von Konservativen im Repräsentantenhaus, schlug in seinem jüngsten Haushaltsplan hingegen vor, das Rentenalter schrittweise von 67 auf 70 Jahre anzuheben. Das jedoch käme einer Leistungskürzung gleich und dürfte vor allem bei den Bald-Rentnern für großen Unmut sorgen.
Klar ist: Starke Gewerkschaften tragen in Frankreich zum Zusammenhalt der Proteste bei, während Beschäftigte in den USA kaum organisiert sind. Als in der Vergangenheit staatliche Bezüge gekürzt werden sollten, zog es trotzdem schon Tausende auf die Straße. Mal waren es die Trucker, die gegen geplante Einschnitte vor dem Kapitol in Washington D.C. protestierten, mal die Paketzusteller, früher die Minenarbeiter.
Wer also glaubt, die große Rentenfrage ohne Gegenwehr beantworten zu können, der unterschätzt die Amerikaner. Denn das Schlimmste steht ihnen noch bevor.
Source: welt.de