Alphonse Daudet: Opfer verkrachter Genies

Alphonse Daudet (1840 bis 1897) wartet in Deutschland noch auf seine Entdeckung
Alphonse Daudet (1840 bis 1897) wartet in Deutschland noch auf seine Entdeckung.

George Sand sagte zu Gustave Flaubert, der ihr gerade den neuesten Roman von Alphonse Daudet geschickt hatte: “Ich bin begeistert von Jack und bitte dich, Monsieur Daudet meinen Dank zukommen zu lassen.” Flaubert wiederum sagte zu Alphonse Daudet: “Eben habe ich Jack beendet, und mir dreht sich noch der Kopf.” George Sand fragte er im Vertrauen: “Finden Sie nicht, dass Daudet dem Effekt zu viel opfert, dem Unterhaltsamen, dem Chic?” Daudets Altersgenosse Émile Zola, der gerade wegen seines Rougon Macquart-Zyklus gefeiert wurde, sagte, Daudet sei eine Art Chronist der abseitigen “Welt des Volkes”. Alphonse Daudet sagte über sich selbst: “Ich kenne etliche Schriftsteller, die sich jahrelang unproduktiv an ein und demselben Werk abrackern und damit ihre wahren Qualitäten abtöten; am Ende haben sie nichts weiter zustande gebracht als das, was ich ‘Literatur für Schwerhörige’ nenne, eine Literatur, deren Schönheiten und Finessen nur noch von ihnen selbst verstanden werden.”

Einen solchen verkrachten Literaten, elitär und lächerlich zugleich, beschreibt Alphonse Daudet in seinem 1875 erschienenen und jetzt erstmals ins Deutsche übertragenen Roman Jack. Der Internatslehrer Amaury d’Argenton ist ein durch und durch egomanischer Mensch, der tödlichen Schaden im Leben seines Schutzbefohlenen Jack anrichtet – eines Kindes von ungeklärter Herkunft. Dessen Mutter lässt sich in einem Pariser Stadtpalais von einem “Bel Ami” aushalten. “Die Gemeinsamkeit der Vergnügungen der Toiletten, der Promenaden”, erklärt uns der Erzähler, habe die Scheidelinie zwischen “einer Lorette, die auf sich hält, und einer Marquise, die sich wegwirft”, heutzutage dünn gemacht.

Jack ist wohl gemäß dieser Vermischung das Zufallsprodukt eines Abenteuers der falschen Gräfin. Sein Vater soll ein Adeliger von höchstem Rang gewesen sein: “Er ist übrigens vor ein paar Jahren in Singapur bei einer großartigen Tigerjagd, die ein mit ihm befreundeter Radscha zu seinen Ehren veranstaltet hatte, auf schreckliche Weise umgekommen.”

Schnell wird klar, dass Gräfin Ida de Barancy eine unzuverlässige Quelle ist. Und doch lässt man sich gern auf ihre Selbsttäuschung ein. Aus Neugier, aus Empathie und aus Entsetzen. Denn diese Frau, die ihren Sohn liebt, ist gleichzeitig seine Totengräberin. Immer wieder lässt sie ihn im Stich. Gleich zu Beginn, indem sie ihn auf ein Internat für Kinder aus Kolonien abschiebt. Die Schule wird von einem Kollegium verkrachter Genies geführt. Daudet, der nicht nur ein großer Moralist war, sondern auch ein begnadeter Satiriker, lässt in Jacks schulischer Folterkammer ein spektakulär verkorkstes Lehrpersonal auftreten. Darunter befinden sich ein Sänger ohne Engagement, ein Mediziner ohne Examen, ein Schriftsteller ohne Verleger: “Verlierertypen, Gescheiterte, die alle wie er wütend auf die Gesellschaft waren, die ihre Talente verschmähte.”

Den trivialpsychologischen Fachbegriff des Narzissten hat es zu Daudets Zeiten noch nicht gegeben. Doch es ist genau jener Typus des ewig zu kurz Gekommenen, der bei Daudet notorisches Unterlegenheitsgefühl in episodischen Sadismus überführt. Jack wird am Gymnasium Moronval seelisch und körperlich zugerichtet. Immer wieder findet er zwar Zuflucht bei seiner Mutter, nur um im nächsten Augenblick wieder von ihr verstoßen zu werden. Auch auf Weisung ihres neuen Geliebten Amaury d’Argenton, Jacks grandios gezeichneten Literaturprofessors mit lyrischer Ambition. Ida ist dem unproduktiven Neurotiker auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie wird zulassen, dass d’Argentin Jack in die Gießereien von Indret schickt, wo aus ihm ein Provinzler mit schwieligen Händen und groben Sitten wird. Sie wird es auch zulassen, dass ihr Junge, der inzwischen den Beruf eines Heizers zur See ausübt, nach einer Havarie erneut aus der mütterlichen Obhut entlassen wird. Dieses Mal verdingt er sich in den Fabriken der Pariser Faubourgs. Einziger Lichtblick in Jacks Leben ist Cécile, das frühere Nachbarsmädchen. Sein Großvater ist ein gutmütiger Arzt und hat Jack ihre Hand versprochen unter der Bedingung, dass er nach getaner Fabrikarbeit noch Medizin studiert. Doch das Glück ist bei einer solchen Pechfracht schnell perdu.

Alphonse Daudet gehört zu den großen Realisten des erzählfreudigen 19. Jahrhunderts. Die Dinge behalten deshalb bei ihm über fast siebenhundert Seiten – auch dank der pulsierenden Übersetzung von Caroline Vollmann – ihre hässliche Unförmigkeit. Der dichtende Stiefvater brütet über schlechten Gedichten. Jack hofft auf die Liebe seiner Mutter Ida. Die Mutter hofft auf Erlösung von ihrer notorischen Langeweile, in der sie Emma Bovary gleicht.

Charles Dickens hatte den 1840 geborenen Daudet seinen kleinen Bruder genannt. Man müsste ergänzen: seinen optimistischen kleinen Bruder. Denn so beharrlich das Leben des jungen Jack sich im Roman verbraucht, so trotzig setzt Daudet am Ende doch Zeichen der Versöhnung. Am Sterbebett des Schwindsüchtigen findet sich nicht nur die borderlinige Mutter wieder ein, sondern auch Jacks treuester Freund, der jüdische Hausierer Bélisaire. Wer von Daudets antisemitischen Eskapaden rund um den Dreyfus-Prozess weiß, wird sich wundern, wie wandelbar dieser in Deutschland wenig bekannte französische Romancier war, wenn er sich als Menschenfreund unter sein Romanvolk mischte.

Alphonse Daudet: Jack. Roman; aus dem Französischen von Caroline Vollmann; Die Andere Bibliothek, Berlin 2022; 696 S., 44,– €