Abiturklausur: Robert Seethaler verrät, welches Abiturienten droben sein Buch wissen sollen
Im Jahr 2012 ist Robert Seethalers Buch „Der Trafikant“ im Verlag Kein & Aber erschienen, es war der vierte Roman des heute 58-jährigen österreichischen Schriftstellers, Drehbuchautors und Schauspielers. „Der Trafikant“ gehört mittlerweile zur Auswahl der Pflichtlektüre für das Deutschabitur, im aktuellen Jahr etwa in Nordrhein-Westfalen. Und bevor die Abiturklausuren nun losgehen, fragen wir Seethaler: Was kann, was mag uns der Künstler über sein eigenes Werk verraten, damit man als Schülerin, als Schüler nicht völlig daneben liegt bei der Textinterpretation?
ZEIT
ONLINE: Robert Seethaler, Ihr Roman Der Trafikant ist in vielen deutschen Bundesländern
Prüfungsthema im Abitur. Um mal ganz von vorn anzufangen: Worum geht’s da
eigentlich?
Robert
Seethaler: Es ist das Jahr 1937, 1938, das war nicht weniger als der Beginn des Zusammenbruchs der
westlichen Zivilisation. Das wissen wir heute. Der Franz Huchel damals wusste
das nicht. Das ist ein 17-jähriger Junge aus dem Salzkammergut, das ist eine
sehr ländliche Gegend in Österreich, wunderschön. Der Franz wurde
rausgeschmissen aus seinem Mutterschoß, aus dem Vaterhaus, aus seiner Heimat,
aus der Herkunft, und nach Wien geschickt, in diese brodelnde Stadt der
damaligen Zeit, ein richtiger Hexenkessel. Alles im Aufbruch, im Werden, im
Entstehen, es gärt unterm Straßenpflaster. Franz findet dort Unterkunft und auch
Arbeit in einer Trafik, das ist ein Zeitungs- und Rauchwarenladen. Franz lernt
den Trafikanten kennen, seinen Chef, das ist ein einbeiniger Mensch namens Otto
Trsnjek. Er lernt die Nazis kennen. Er lernt die Schrecken der Gestapo kennen,
den Widerstand dagegen. Er befreundet sich mit einem der bekanntesten Menschen
der damaligen Zeit, nämlich mit Sigmund Freud, dem Erfinder der Psychoanalyse. Und
er lernt seine erste, größte und letzte Liebe kennen und wird irgendwann dann
weggerissen vom Weltenlauf, so wie viele andere auch.
ZEIT
ONLINE: Welche zentrale
Botschaft, welche Erkenntnis des Buches sollte in keiner Abiklausur fehlen?
Seethaler:
Also, es wäre ja
schade, wenn ich das so eindeutig sagen würde. So eine Geschichte zu schreiben,
das ist ja wie ein Bäumchen zu pflanzen, dann gießt man es und guckt zu, wohin
das wächst und wie sich das verwächst. Da leben dann die Käfer in der Borke und
die Nachtigallen und Eulen und Menschen und Wesen. Wäre doch schade, wenn man
das dann auf die bloße Form eines Baumes reduziert. Also kann ich nicht sagen,
was die entscheidende Aussage dieses Buches ist. Da soll sich jeder seine
eigene Geschichte herauslesen. Dafür sind die Geschichten auch da. Sobald du
sie liest, ist sie deine Geschichte.
ZEIT
ONLINE: Ja, bei
echten Lesern! Wir sprechen hier aber ja übers Abitur, und da muss man sich nun
mal für eine Deutung entscheiden. Wie war denn Ihr eigenes Deutschabitur?
Seethaler: Ich habe mit 15 die Schule
verlassen und habe verschiedene Berufe gelernt und deswegen gar keine Ahnung
vom Abitur. Ich weiß auch nicht, was in diesem Reclam-Lektüreschlüssel steht,
den Sie da mitgebracht haben. Ich weiß nicht, was die da lernen. Ich kriege
aber viele Mails und Briefe zu dem Buch. Für mich ist es immer überraschend,
was die Menschen da rein- oder rauslesen. Ich selbst lerne wahrscheinlich mehr
als die Abischüler.
ZEIT
ONLINE: Was
haben Sie zum Beispiel gelernt?
Seethaler: Die Fragen sind manchmal für mich wirklich zum Teil geradezu absurd, aber deswegen auch interessant. Ob die Anezka eine aktive Feministin ist etwa. Das ist die …
ZEIT
ONLINE: … die Liebe vom Franz, das Mädchen aus Böhmen.
Seethaler: Ja, und sie ist natürlich eigentlich
gar keine Feministin. Wenn ich aber darüber nachdenke, ist sie das dann doch
schon. Denn sie als junge Frau trägt wirklich das Leben weiter. Sie ist die,
die überleben wird. Wir alle wissen ja auch, wie gerade junge Frauen damals das
Zeug wieder aufgebaut haben, das die Verrückten niedergebrannt hatten. Und
deswegen ist sie vielleicht dann doch eine Feministin? Solche Fragen sind für
mich manchmal so seltsam, und es ist so berührend, dass sich Schüler mit dem
Buch so auseinandersetzen.
ZEIT
ONLINE: Eigentlich
müsste man Anezka eine Opportunistin nennen. Sie überlebt, weil sie sich mit
der dunklen Macht, mit der SS, einlässt.
Seethaler: Ja, aber das ist natürlich auch eine
Bewertung aus großer zeitlicher Distanz heraus: „Das waren Opportunisten, die
waren so, und wir hätten das besser getan.“ Wir sehen gerade, wie schwer es dann
doch offenbar für viele Menschen ist, etwas besser oder gut zu tun.
ZEIT ONLINE: Schweifen Sie nicht ab, wir sind im Abitur! Klassische
Abifrage: Ist das ein Entwicklungsroman?
Seethaler: Da muss ich nachdenken.
Entwicklung – von mir aus kann man das so einkasteln. Ich schreibe meine
Geschichten nicht, um sie dann in eine Schublade zu stecken oder irgendwie zu benennen.
Von mir aus ist es ein Entwicklungsroman. Viel wichtiger als die Entwicklung der
Figuren ist aber für mich die Entwicklung des Lesers. Die Leser, in diesem Fall
Mädchen und Jungs, die das Buch lesen. Die machen eine Entwicklung durch, indem
sie lesen. Es vergeht Zeit, ein paar Tage oder ein paar Wochen, und vielleicht
macht das Buch dann doch was mit denen. Auf deren Entwicklung kommt es an.