Covid-19 | Corona und die Kinder: Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht den Fehler ein

Kinder wurden oft als Treiber der Corona-Pandemie stigmatisiert – zu Unrecht. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zeigt bei diesem Thema: Er ist lernfähig

Corona und die Kinder: Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht den Fehler ein

Hat Karl Lauerbach da sein schlechtes Gewissen eingestanden? Das, was der Bundesgesundheitsminister Anfang November vor der Presse verkündete, hatte man von ihm so jedenfalls noch nicht gehört. „Das Schließen von Kitas ist definitiv medizinisch nicht angemessen und wäre auch in dem Umfang, wie wir es damals gemacht haben, nach heutigem Wissen nicht nötig gewesen“, sagte der SPD-Politiker.

Anlass für Lauterbachs Erkenntnis war die Vorstellung des Abschlussberichts der Corona-Kita-Studie, mit der das Robert Koch-Institut (RKI) mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) mehr als zwei Jahre lang unter anderem die Bedeutung von Kitas für die Ausbreitung des Coronavirus untersucht hatte. Vor allem in dem Teil, den das DJI beisteuerte, ging es auch um die Folgen der Kitaschließungen für die Kinder und ihre Familien. Der Schließungen, die Lauterbach nun im Rückblick für überflüssig erklärte.

Den Studienergebnissen zufolge haben Kitas die Pandemie nicht getrieben, im Gegenteil. „Kinder im Alter von 0 bis 5 Jahren waren in den ersten zweieinhalb Jahren der Pandemie weniger von COVID-19-Infektionen betroffen als andere Altersgruppen“, schreiben die Autoren. „Ihr Anteil an allen COVID-19-Meldungen erreichte nur selten den Anteil ihrer Altersgruppe in der Bevölkerung.“ Stichproben hätten ergeben, dass in Kitas die durchschnittliche Übertragungsrate bei 9,6 Prozent gelegen habe. „Das heißt, in einer Kita-Gruppe, in der zehn Personen zusammenkommen, steckte eine infizierte Person durchschnittlich etwa eine Person aus der Gruppe an.“ Zum Vergleich: In Privathaushalten betrug die Übertragungsrate zu Beginn der Pandemie 18,9 Prozent und stieg bei Omikron sogar auf 42,7 Prozent, wie im Frühjahr eine US-Metastudie mit Daten aus 36 Ländern ergab.

Ansteckungsrisiko Arbeit

Natürlich kann man jetzt einwenden, dass die Haushalts-Prozentwerte schon deshalb höher liegen müssen, weil dort weniger Menschen als in Kitas zusammenkommen, also jede festgestellte Infektion gleich viel stärker auf den statistischen Gesamtanteil durchschlägt: Leben vier Personen in einer Familie, bedeutet eine einzige Ansteckung bereits eine Rate von 25 Prozent. Auch werden zweifellos viele der zu Hause aufgetretenen Infektionen von Kindern eingeschleppt worden sein.

Aber noch mehr eben von Erwachsenen, denn die, auch das zeigt die Corona-Kita-Studie, infizieren sich viel leichter als die Kinder: Konkret war die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, bei einem Kitakind mit 7,7 Prozent nur halb so hoch wie bei den Erwachsenen (15,5 Prozent).

Wenn das aber so ist, welche Übertragungsraten hätte wohl eine über zwei Jahre laufende Corona-Arbeitswelt-Studie gefunden, mit Großraumbüros als Gegenstand, engen Teeküchen, schlecht belüfteten Sitzungsräumen und dicht an dicht schuftenden Fabrikarbeitern? Nur dass Deutschlands Politik bei der Untersuchung erwachsener Infektionssettings nie auch nur ansatzweise einen vergleichbaren Aufwand betrieben hat wie bei der Corona-Kita-Studie. Entsprechend wurden Kitas und Schulen landes- und bundesweit geschlossen, Büros dagegen nie. Einer, dessen öffentliche Äußerungen dieser einseitige Fokus auf Kinder und ihre Lebenswelten von Anfang der Corona-Pandemie an durchzog, war – Karl Lauterbach. „Die Kontaktbeschränkungen sind leider alternativlos“, sagte er Ende April 2020 der taz. „Wir wissen im Moment nicht, wie stark Kinder Ältere gefährden. Wir können nicht ausschließen, dass sie die Verbreitung der Seuche massiv beschleunigen.“

Da war es, das Bild der Kinder als Treiber der Pandemie, das auch Lauterbach in den nächsten Monaten weiter beförderte. Als Kinder- und Jugendärzteverbände im Mai 2020 die Komplettöffnung von Kitas und Schulen forderten, kommentierte Lauterbach auf Twitter: „Die Kinderärzte meinen es sehr gut. Leider ist es aber falsch, dass Kinder geringe Bedeutung für die Pandemie haben.“ Noch im Dezember 2021 forderte er: „Die Covid-Verharmlosung bei Kindern muss enden.“ Kein Wunder, dass Lauterbachs jüngster Sinneswandel seine bis dahin treusten Unterstützer erschüttert hat, etwa das Onlineportal News4teachers, das seinen „180-Grad-Schwenk“ als „irritierend“ bezeichnet. „Der im Netz kursierende Witz, der echte Karl Lauterbach sei von Reptiloiden entführt und durch einen Atavar ersetzt worden, klingt plötzlich nicht mehr ganz so albern.“ Mit einer Beobachtung freilich hat News4teachers recht: Der Abschlussbericht der Corona-Kita-Studie habe „wenig Neues zu bieten, neue Daten schon gar nicht. Solche wurden nämlich nicht erhoben.“

Richtig. Denn darauf, dass vor allem kleinere Kinder keine zentrale, sondern vermutlich sogar eine eher randständige Rolle in der Pandemie spielten, haben in- und ausländische Untersuchungen früh hingedeutet. Bereits Mitte Juni 2020 legten vier baden-württembergische Universitätskliniken erste Studienergebnisse vor, denen zufolge Kinder unter zehn sich seltener mit Corona infiziert hatten als ihre Eltern – und die Mehrheit der Eltern sich nicht bei ihren Kindern angesteckt hatte. Kinder seien „sicher nicht als Treiber dieser Infektion anzusehen“, sagte schon damals Klaus-Michael Debatin vom Universitätsklinikum Ulm. Aber das sei ja zu Zeiten der Kitaschließungen gewesen, wandten Kritiker ein, auch Lauterbach relativierte die Ergebnisse, sie bezögen sich nur auf Baden-Württemberg. Anderswo kamen Forscher aber zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Auch die Corona-Kita-Studie, die das Infektionsgeschehen bei wieder offenen Kitas genau beobachtete, verzeichnete in ihren Zwischenberichten stets eine weiter geringe Krankheitslast und vergleichsweise niedrige Übertragungszahlen bei Kindern.

Gleichzeitig wiesen Forscher, und das immer dringlicher, auf die Folgen von Kita- und Schulschließungen und sonstigen Kontaktbeschränkungen hin. Angefangen mit dem Verlust an Bildungsgelegenheiten. Doch das war nur die Spitze des Eisberges. In vielen Ländern, schrieben britische Forscher im Herbst 2020 in Science, habe es bei Schülern einen Anstieg von Verletzungen im Haushalt gegeben, die einen Krankenhausaufenthalt nach sich zogen. Deutete sich da bereits auch die explodierende häusliche Gewalt während der Lockdowns an?

Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die psychisch belastet sind, hat sich laut der COPSY-Studie des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf seit Beginn der Pandemie auf 30 Prozent verdoppelt. Kinderärzte berichten von vielen Kindern mit chronischen Bauch- und Kopfschmerzen, von Schlaf- und Essstörungen. Was davon mit Corona selbst oder den Pandemiemaßnahmen zusammenhängt, lässt sich freilich selten genau sagen.

Rückstellung vom Schulbesuch

Zwei Jahre später fassen DJI und RKI in ihrem Abschlussbericht ihre Ergebnisse in Bezug auf Kitakinder zusammen: „Ein kleiner, aber substanzieller Anteil an Familien berichtet von auffälligen Verhaltensweisen, psycho-sozialen Problemen oder psychosomatischen Symptomen bei ihren Kindern.“ Und geben wichtige Hinweise darauf, dass doch sehr viel davon mit den Maßnahmen zu tun hatte: Denn für Kinder, die wegen der Pandemie nicht in die Kita gehen konnte, gaben die Eltern in der Studie „die niedrigsten Wohlbefindens- und die höchsten Auffälligkeitswerte“ an.

Besonders Kinder aus ärmeren Familien zeigten ihren Kita-ErzieherInnen zufolge deutlich höhere Entwicklungsrückstände, auch Rückstellungen von Schulbesuchen kämen bei ihnen häufiger vor. Vor solchen Folgen hatten viele Experten sehr früh gewarnt. Weshalb auch Lauterbachs Verweis auf den „heutigen Kenntnisstand“, der seinen öffentlich erklärten Sinneswandel begleitet, fehlgeht. Die Erkenntnisse, zumindest aber die Indizien, waren da. Deshalb haben ja die Kinder- und Jugendärzte ihre Forderung nach normaler Teilhabe für Kinder seit Mai 2020 vielfach aufs Neue und jedes Mal mit noch besseren Daten untermauert wiederholt: als Ergebnis evidenzbasierter Abwägung zwischen dem Beitrag, den Kinder zweifellos zur Ausbreitung des Virus leisten, ihrem persönlichen Erkrankungsrisiko – und den Schäden, die sie durch die Eindämmungsmaßnahmen erlitten haben. Oft und lang besonders heftig widersprach dem Eindruck, es könne Normalität für Kinder geben: Karl Lauterbach.

Er tat es selbst dann noch, als mit dem Start der Ampel-Koalition klar war, dass erneute flächendeckende Kita- und Schulschließungen politisch nicht mehr durchsetzbar sein würden. Zuletzt war Thüringens Kultusminister Helmut Holter (Linke) um die Jahreswende mit einem Versuch, flächendeckenden Distanzunterricht einzuführen, am Bundesinfektionsschutzgesetz gescheitert. Lauterbach war mit seiner Position also keineswegs allein, im Gegenteil: Über lange Zeit war sie in der deutschen Politik mehrheitsfähig.

Aber spätestens seit Ende 2021 eben nicht mehr. Kann es sein, dass der Gesundheitsminister genau deshalb, je länger seine Warn-Rhetorik in Bezug auf Kitas und Schulen von der politischen Realität und der diesbezüglichen Evidenz abwich, anfing, nach einem gesichtswahrenden Ausweg zu suchen? Und dass er diese Gelegenheit nun endlich bei der Veröffentlichung des Abschlussberichts der Corona-Kita-Studie ergriffen hat? Womit sein Schritt plausibel würde, obwohl die darin präsentierten Ergebnisse an sich wirklich nichts grundlegend Neues zu bieten hatten. „Man muss die Studienergebnisse so vortragen, wie sie sind“, schrieb er auf Twitter. „Bei den Schließungen der Kitas in der Corona-Pandemie haben wir uns geirrt. Die Kitakinder waren keine ‚Treiber‘ der Pandemie, die Schließungen werden sich nicht wiederholen.“

Am Ende spielen Lauterbachs Beweggründe weniger eine Rolle als das damit verbundene Signal, dass die staatlich verordneten Corona-Einschränkungen in den Kitas auf Dauer vorbei sind. Und dass vieles von dem, was Lauterbach, neben sich Familienministerin Lisa Paus (Grüne), in der Pressekonferenz sonst sagte, als Rückzugsgefecht zu werten ist. Etwa, dass Kontaktreduktionen, die Bildung kleiner Gruppen (die meist Teilschließungen bedeuten) und Masken bei Erwachsenen weiter wichtig blieben. Epidemiologisch richtig, sozialpolitisch in der Breite der Kitas chancenlos. Zum Glück.

Jan-Martin Wiarda ist Bildungsjournalist und publiziert auch auf jmwiarda.de zu Kita-, Schul- sowie Hochschulthemen

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