Kriegstrauma: Die Hälfte jener Kinder in Gaza wünscht sich den Tod
Eine neue Studie zeigt die enormen psychischen Auswirkungen des Krieges auf Kinder und junge Menschen im Gazastreifen. 44 Prozent der Toten waren Kinder, und die Überlebenden leiden unter starken Symptomen der Traumatisierung
Laut einer neuen Studie zur Situation von Kindern, die den Krieg in Gaza erleben, haben 96 Prozent von ihnen das Gefühl, dass ihr Tod unmittelbar bevorsteht. Gleichzeitig ergab die Befragung, dass sich etwa die Hälfte der Kinder aufgrund eines erlittenen Traumas den Tod wünscht. Die Analyse einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Gaza, die von der Hilfsorganisation War Child Alliance finanziert wurde, kam außerdem zu dem Ergebnis, dass 92 Prozent der für die Studie befragten Kinder „die Realität nicht akzeptieren“, 79 Prozent an Albträumen leiden und 73 Prozent Symptome von Aggression zeigen.
„Dieser Bericht legt offen, dass Gaza einer der schrecklichsten Orte auf der Welt ist, um ein Kind zu sein“, kommentierte die Geschäftsführerin des britischen Zweigs der Hilfsorganisation War Child, Helen Pattinson. „Neben der Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen, Häusern und Wohnungen hinterlässt eine Spur psychologischer Zerstörung unsichtbare, aber nicht weniger zerstörerische Wunden bei Kindern, die keinerlei Verantwortung für diesen Krieg tragen.“
44 Prozent der Opfer im Gaza-Krieg waren Kinder
Für die Studie wurden Eltern und Betreuer von 504 Kindern aus Familien befragt, in denen mindestens ein Kind behindert, verletzt oder unbegleitet ist, also von seinen Eltern getrennt ist. Die Stichprobe wurde zwischen dem südlichen und dem nördlichen Gazastreifen aufgeteilt und durch weitere ausführliche Interviews ergänzt. Die Befragung fand bereits im Juni statt, sodass die Ergebnisse die aktuellen psychologischen Auswirkungen auf die Kinder in Gaza eher unterschätzen lassen – nach mehr als 14 Monaten israelischer Angriffe auf das Gebiet.
Die Zahl der geschätzten Todesopfer in Gaza liegt bei mehr als 44.000 und laut einer neueren Untersuchung des UN-Menschrechtsbüros waren 44 Prozent der Toten, die es identifizieren konnte, Kinder.
Die am Mittwoch veröffentlichte psychologische Studie wurde von der im Gazastreifen ansässigen Organisation Community Training Centre for Crisis Management mit Unterstützung der Dutch Relief Alliance und der War Child Alliance durchgeführt. „Die psychologische Belastung für die Kinder ist schwerwiegend, mit einem hohen Stressniveau, das sich in Symptomen wie Angst, Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Fingernägel knabbern, Konzentrationsschwierigkeiten und sozialem Rückzug manifestiert“, heißt es in dem Bericht. „Viele Kinder haben die Bombardierung ihres Zuhauses und von Schulen oder den Verlust von geliebten Menschen erlebt. Sie wurden vertrieben oder von ihren Familien getrennt, als sie flohen, um Schutz an einem sicheren Ort zu suchen.“
Angst, Albträume, Schlafstörungen, Essstörungen: Folgen der Traumatisierung sind vielfältig
Rund 1,9 Millionen Palästinenser in Gaza, etwa 90 Prozent der Gesamtbevölkerung des Gebiets, sind mittlerweile vertrieben, viele mehrfach. Die Hälfte der Vertriebenen sind Kinder, die ihr Zuhause verloren haben und gezwungen wurden, aus ihrem Wohnviertel zu fliehen. Mehr als 60 Prozent der Kinder in der Studie berichteten davon, dass sie während des Krieges traumatische Erlebnisse hatten. Manche waren auch mehrfach traumatischen Ereignissen ausgesetzt.
Geschätzt 17.000 Kinder in Gaza sind unbegleitet, wobei die Studie darauf hinweist, dass die reale Zahl auch deutlich höher liegen könnte. „Die Trennung von ihren Familien setzt die Kinder einem erhöhten Risiko aus, ausgebeutet oder missbraucht zu werden oder andere ernsthaften Verletzungen ihrer Rechte zu erleben“, heißt es in dem Bericht weiter. „Solchen Erlebnissen ausgesetzt zu sein, lässt die Kinder Reaktionen ausbilden, die über das Ende des Krieges hinaus anhalten und ihr alltägliches Leben stark beeinträchtigen können.“
Traumatisierungsreaktionen könnten sich „auf verschiedene Weise zeigen, etwa durch anhaltende emotionale Belastung, Angst, Verhaltensänderungen, Beziehungsschwierigkeiten, Regression, Albträume, Schlafstörungen, Essprobleme und körperliche Symptome wie Schmerzen“.
49 Prozent wünschen sich, zu sterben – Jungs stärker als Mädchen betroffen
Das Gefühl, dem Untergang geweiht zu sein, ist allgegenwärtig geworden. Fast alle Kinder (96 Prozent) fühlten sich unmittelbar vom Tode bedroht und 49 Prozent wünschten sich tatsächlich, zu sterben, ein Gefühl, das mit 72 Prozent deutlich stärker unter Jungen verbreitet war als bei Mädchen, bei denen nur 26 Prozent betroffen waren.
Laut War Child konnten die Hilfsorganisation und ihre Partner bisher 17.000 Kinder in Gaza mit psychologischer Unterstützung erreichen. Ziel ist es aber, einer Million Kindern psychosoziale und andere Unterstützung zukommen zu lassen. Das wäre der größte humanitäre Einsatz in der dreißigjährigen Geschichte der Organisation.
„Die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln“, fordert Pattinson, „bevor die psychische Gesundheitskrise bei Kindern, die wir jetzt beobachten, zu einem generationenübergreifenden Trauma wird, mit dessen Folgen die Region für Jahrzehnte zu kämpfen hat“.