„Heilige Kühe“ in Indien: Letzte Tage im Tierasyl
Den einen sind sie heilig, den anderen notwendig für die menschliche Ernährung – Rinder sind ohne Zweifel die am stärksten polarisierenden Tiere in Indien. Für Hindus, die 80 Prozent einer Gesamtbevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen ausmachen, sind Kühe heilig – ein Symbol für Reichtum, Stärke, Überfluss und Wohlstand. Sie zu opfern, gilt als Sakrileg. Für Muslime, Christen und nicht privilegierte Kasten hingegen ist Rindfleisch – zumeist billiger als Hähnchen oder Fisch – ein Grundnahrungsmittel. Viele Muslime bestreiten mit Rinderherden seit Jahren ihren Lebensunterhalt, da sie als Eigentümer eines Großteils der Schlachtereien und Metzgereien im Land mit dem Fleisch der Tiere handeln und daran verdienen.
Der derzeitige indische Premierminister Narendra Modi verfolgt seit seinem Amtsantritt im Jahr 2014 eine Politik der Verherrlichung traditioneller hinduistischer Werte. Dabei hat die Verehrung von Kühen einen hohen Stellenwert. Das war stets einer der wichtigsten Trümpfe, um die Unterstützung seiner hinduistischen Community zu gewinnen. Bei den Wahlen im April und Mai 2019 wurde Modi relativ sicher bestätigt, als seine hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) auf gut 38 Prozent der Stimmen kam. Inzwischen steht er vor einer dritten Amtszeit, doch hat er mit der gerade zu Ende gegangenen landesweiten Abstimmung seine Mehrheit im Parlament eingebüßt. Er hatte für die BJP – sie ist vorzugsweise ein Netzwerk fundamentalistischer Gruppen – das Ziel ausgegeben, 400 der zur Wahl stehenden 543 Sitze im Unterhaus (Lok Sabha) zu gewinnen. Dies jedoch wurde klar verfehlt. Die BJP kommt lediglich auf 24o Mandate (63 weniger als 2019), sodass sich die von Modi geführte Nationale Demokratische Allianz (NDA) wohl nach Partnern umsehen muss. Der teilweise mit fanatischem Furor verfolgte Hindu-Nationalismus ist offenbar kein so durchschlagendes Erfolgsrezept wie gedacht.
Die Kongresspartei holt auf
Die konkurrierende Kongresspartei hat mit 21,2 Prozent der abgegebenen Stimmen und 99 Sitzen den Abstand zur BJP verringert. Sie kann sich einmal mehr zum Anwalt derer erklären, die den säkularen Staat den jetzigen Verhältnissen vorziehen. Was das für Modis Agenda bedeutet, Indien eine hinduistische Staatsräson zu verordnen und eine Hegemonie seiner Religion gegenüber alle anderen Glaubenslehren zu proklamieren, wird sich zeigen.
Nach diesem Votum dürfte erst einmal nicht groß daran gerüttelt werden, dass die meisten Einzelstaaten weiter an einer religiös geprägten Agrarpolitik festhalten. Das gilt auch für Gesetze, die das Schlachten von Tieren regeln. Als die BJP und Modi vor einem Jahrzehnt die Regierungsmacht übernahmen, hielten es manche Regionalregierungen für angebracht, ihre Gesetzgebung zu verschärfen, um das Schlachten von Kühen wie den Transport und Verkauf von Rindfleisch zu kriminalisieren. Die dafür verhängten Strafen wurden erhöht, und – besonders perfide – die Beweislast für ihre Unschuld auf die Schultern von Angeklagten verlagert. Es wurde nach der Maxime verfahren, für diese Art von Straftaten habe statt einer Unschulds- stets eine Schuldvermutung zu gelten. Einige Staaten gingen so weit, private Gruppen zu ermächtigen, Gesetze und Verordnungen durchzusetzen. Das führte dazu, dass sich in ausgesprochen radikalen Einzelstaaten „Gruppen von Schutzbefohlenen“ der Rinder bildeten, die klar übers Ziel hinausschossen. Wer ihnen suspekt war, musste mit einem Lynchmord rechnen.
Laut dem Nutztier-Zensus des Ministeriums für Fischerei, Tierzucht und Milchwirtschaft in Delhi gab es 2020 in Indien (das Land ist zweitgrößter Milchproduzent der Welt nach den USA) einen Bestand von 192,5 Millionen Kühen, von denen 22,2 Millionen „unproduktiv“ waren. Bevor die Gesetze zum Schutz der Rinder verschärft und mit teils drakonischer Strenge durchgesetzt wurden, landeten viele der „unproduktiven“ Kühe in muslimischen Schlachthäusern oder im Nachbarland Bangladesch, wohin sie exportiert wurden.
Kühe fressen Plastikabfälle und anderen Müll
Mittlerweile dürfen in vielen Regionen Indiens Landwirte ihre Rinder nicht verkaufen, wenn sie keine Milch mehr produzieren. Weil man es sich allerdings als Eigentümer nicht leisten kann, die Tiere weiter zu unterhalten, werden sie ausgesetzt. In der Folge heißt das: Es streunen immer mehr Kühe frei auf den Straßen von Städten und Metropolen herum, verursachen Unfälle, fressen zur Verzweiflung von Bauern ganze Getreideschläge kahl oder ernähren sich von Müll und Plastikabfällen. Es ist paradox: Obwohl ihm jeder nur denkbare Schutz zuteil werden soll, endet das heiligste Tier der Hindu-Religion orientierungslos im Dreck und wird einem ungewissen Schicksal überlassen.
Um die durch das Aussetzen von Kühen verursachten Probleme zu verringern, entstehen im Land immer mehr „Goshalas“ – wörtlich übersetzt: „Unterstände für Kühe“ –, die als Futter- und Pflegestationen auf die früheste Zeit der hinduistischen Zivilisation vor mehr als 5.000 Jahren zurückgehen und das Wohlergehen der Kühe gewährleisten sollen. Augenblicklich gibt es im Land Tausende „Goshalas“, die meisten von Hilfsorganisationen unterhalten, die staatliche Zuschüsse erhalten. Da diese häufig nicht ausreichen, müssen sie durch private Spenden ergänzt werden.
In Jaipur, Hauptstadt des Staates Rajasthan, befindet sich die größte Schutzeinrichtung für streunende Kühe in Indien. 2004 von der Regionalregierung gegründet und derzeit von der Non-Profit-Organisation Sri Krishna Balram Seva Trust geführt, ist die „Hingonia Goshala“ eine Pflegestation auf einem mehr als 260 Hektar großen Terrain. Sie versorgt etwa 13.000 Kühe mit einer Zuflucht. Mehrheitlich sind es alte Tiere, die sich selbst überlassen wurden, als sie keine Milch mehr geben konnten. In der Regel trafen sie abgemagert und krank in der Pflegestation ein, manche auch schwer verletzt, weil sie angefahren wurden.
„In Jaipur ist es eigentlich verboten, Kühe in der Innenstadt sich selbst zu überlassen“, meint Radha Gopal Dasa, während er auf den Lastwagen wartet, der die ersten Kühe des Tages bringt. Der 26-Jährige ist Mitglied der Hare-Krishna-Bewegung und kam im März 2019 in die Goshala, nachdem er sein Studium als Agraringenieur abgeschlossen hatte. „Wir verfügen über sechs Lastwagen, um mit diesem Fuhrpark die Straßen von Jaipur abzufahren. Dabei sammeln wir jeden Tag zwischen 35 und 50 Kühe auf, die in der Stadt herumstreunen.“ Radhas Goshala zählt 400 Beschäftigte, von denen etwa 150 auf dem Gelände wohnen, einige sogar mit ihren Familien. Zu den wichtigsten Teilen der Anlage gehört ein Tierhospital, in dem maximal 400 Kühe versorgt werden können. Je nach Erschöpfungsgrad und der Schwere von Krankheiten, denen die Tiere ausgesetzt sind, gibt es unterschiedliche Abteilungen. Häufig müssen Tiere operiert werden, um kiloweise Müll zu entfernen, von dem ein Magen verstopft sein kann. Zum Vorschein kommen Plastikteile, Holz, Glasstücke, zuweilen sogar Schuhe. „Durch diese Tierklinik konnten wir das übermäßige Sterben von Rindern stoppen, obwohl sich die Zahl der bei uns gestrandeten Tiere in nur vier Jahren verdoppelt hat“, erzählt Radha. „Wir erhalten eine staatliche Beihilfe von 1.470 Rupien (etwa 16 Euro) pro Monat und Tier. Hilfreich sind ebenso großzügige Spenden. Aber wir versuchen trotzdem, finanziell unabhängiger zu sein, indem wir Molkereiprodukte verkaufen, die wir aus der Milch unserer produktiven Kühe herstellen.“
Das Hare-Krishna-Mantra soll die Tiere beruhigen
In diesem Moment fährt ein Transporter auf das Gelände und bringt die ersten sechs Rinder, die an diesem Tag verloren über die Straßen von Jaipur getrottet waren. Nachdem die Seile und Amulette abgeschnitten sind, die vom Nacken der Kühe herabhingen, werden Marken mit einer neuen Kennzeichnung verteilt. Danach werden die Tiere auf ein großes Feld getrieben, auf dem sie zwei bis drei Tage verbringen, bevor sie nach Alter, Geschlecht und Rasse getrennt werden. „Das ist eine sehr anstrengende Zeit für die Tiere, die lange allein über die Straßen gewandert sind“, erläutert Radha, während das Hare-Krishna-Mantra als Hintergrundmusik erklingt. Überall platzierte Lautsprecher verbreiten den Sound über die gesamte Farm. „Dadurch“, so Radha, „versuchen wir, den Tieren Ruhe zu vermitteln, damit sie den Wechsel der Umgebung möglichst gut verkraften.“
Andere, kleinere Goshalas, die weniger Ressourcen haben, verfälschen den eigentlichen Zweck dieser Schutzstationen und haben sich zu Molkereien entwickelt. Ein paar Kilometer von der „Hingonia Goshala“ entfernt, an einer der Haupteinfallstraßen nach Jaipur hinein, liegt die „Shree Pinjrapol Goshala“, in der annähernd 2.500 Kühe untergebracht sind, 400 davon Milchproduzenten. Das Anwesen ist privat geführt und wurde schon vor 120 Jahren gegründet, um Tiere aufzunehmen. „Wir existieren hauptsächlich durch Spenden, durch den Verkauf von Milchprodukten und Zuschüsse der Regierung“, sagt Narayan Lal Aragwal, Betreiber der Goshala, während er vor einem improvisierten Empfangstisch sitzt, auf dem eine Urne für Spenden steht. In einem kleinen Sektor des Unternehmens, der als Tierarztstation genutzt wird, arbeitet Dr. Vashistha, ein pensionierter Mediziner, der einmal im Dienst der Stadtregierung stand und seit 2009 als ehrenamtlicher Helfer dieser Goshala beisteht. „Ich weiß, Einrichtungen wie unsere sind nicht die Lösung für das große Problem, das sich aus so vielen ausgesetzten Kühen ergibt“, meint er und wirkt resigniert, „aber etwas muss getan werden. Gegenwärtig behandle ich 20 Tiere, von denen sich die meisten in einem sehr schlechten Zustand befinden, weil sie Opfer von Verkehrsunfällen wurden und nur geringe Chancen haben, die nächsten Tage zu überleben.“
Derartige Asyle der Hilfsbereitschaft, in denen die Tiere gefüttert und gepflegt werden, während sie auf ihren Tod warten, scheinen immer noch die beste Lösung für ein Problem zu sein, das von der Zentralregierung verschärft wird, wenn sie einen radikalen Hinduismus vertritt und gleichzeitig verspricht, das Wirtschaftswachstum zu fördern. Die Vorstufe zum Tod in der „Shree Pinjrapol Goshala“ ist ein zur Hälfte überdachter Ort, der ICU genannt wird. Dort liegen gut hundert Kühe bewegungslos auf dem Boden, manche schon komplett blind und langsam dahinsiechend. Nur selten wird die lähmende Stille von einem Brüllen unterbrochen, wenn einige der Tiere versorgt werden und Arbeiter versuchen, Rindern beim Aufstehen zu helfen, die noch halbwegs stehen können.